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„Ohnmächtige Wut“

Vera Stein ist nicht ihr richtiger Name. Die heute 42-Jährige hat genug davon, als Bekloppte abgestempelt zu werden. Für die Öffentlichkeit will die Frau, die als Kind Kinderlähmung hatte und jetzt unter der verheerenden Nachwirkung der Medikamente leidet, die sie als solcherart Geschädigte nie hätte bekommen dürfen, Vera Stein heißen. Psychiatrie-Aufenthalte, sämtlich vom Vater organisiert, gehen ihrer Odyssee in Bremen voraus und folgen nach. 1980 setzt sie alle Medikamente auf einmal ab, kann in der Folge nicht mehr sprechen und sich kaum noch bewegen. Mit der Bewegung wird es besser, die Sprachlosigkeit bleibt. Dennoch machte Vera Stein eine Lehre zur technischen Zeichnerin und arbeitet in ihrem Beruf, bis ihr Körper sie einholt: Anfang der 90er Jahre durchläuft sie – aufgrund körperlicher Schmerzen, die für psychosomatisch gehalten werden – wieder verschiedene Psychiatrien, bis sie endlich in orthopädische Behandlung kommt. Heute lebt sie in einem kleinen Ort irgendwo in der Republik. Sie hat alle Kliniken verklagt. Die taz sprach mit ihr.

taz: Wie geht es Ihnen heute?

Vera Stein: Ich habe ständig Schmerzen und Muskelschwächen. Ich sitze im Rollstuhl, kann nur ein paar Schritte laufen. Mich strengt alles sehr an. Nachts habe ich Atemprobleme. Ich kann nicht sehr viel machen, muss zwischendurch immer Pausen machen oder mich hinlegen.

Wie war es, bei Ihrem Prozess am OLG zwischen Richtern, Anwälten und neben dem Gutachter zu sitzen, die über ihr Schicksal diskutierten?

Ich war das allererste Mal überhaupt im Gerichtssaal. Ich habe ganz deutlich gemerkt, dass ich nicht willkommen war. Die Richter wollten mich überhaupt nicht hören, die wollten nur mit dem Gutachter verhandeln und die Sache möglichst schnell abschmettern und beenden. Normalerweise müsste die Justiz doch Beweise gründlich würdigen, Zeugen befragen, einer Sache auf den Grund gehen. Und nicht ein derartiges Desinteresse an den Tag legen.

Sie haben vor Gericht schon einige Niederlagen erlebt. Kommt Ihnen nicht der Gedanke, einfach aufzugeben?

Nein. Ich kämpfe weiter. Denn ich bin hier in Deutschland kein Einzelfall. Aber es kommt vor allem eine ohnmächtige Wut auf. Im Laufe meiner ganzen Prozesse wurden insgesamt sechs Gerichtsgutachten erstellt. Alle haben eines gemeinsam: Sie sind durchweg ärzteparteiisch. Aber ich habe auch mehrere Privatgutachten, die die ärztlichen Fehler belegen. Und nichts anderes sagen die Krankenakten.

Hat sich jemals einer der Ärzte, der Sie damals behandelt hat, bei Ihnen gemeldet?

Es hat sich nie ein Arzt bei mir gemeldet, geschweige denn entschuldigt. Die Ärzte sind nur darauf bedacht, ihre Fehler vor Gericht zu vertuschen. Denen ist nicht wichtig, wie es mir heutzutage geht – gesundheitlich und auch materiell.

Wovon leben Sie jetzt?

Ich lebe von einer Rente, die kaum zum Leben reicht. Ich kämpfe jetzt seit 26 Jahren. Damals habe ich gekämpft, um nicht eingesperrt zu werden, dann mit den Gesundheitsschäden und dem Stigma, schwerkrank zu sein. Heute kämpfe ich auch noch vor den Gerichten.

Und das Stigma haftet Ihnen ja noch an.

Der vom OLG bestellte Gutachter hat einer NDR-Journalistin erklärt, mein heutiger Zustand sei rein psychosomatisch. Mit der Psyche zu erklären, ist die simpelste Lösung. Das funktioniert immer. Dabei hat dieser Professor mich nie selbst vor seinem Gutachten gesehen geschweige denn untersucht.

Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie?

Zu meinem Vater will ich keinen Kontakt mehr haben, zur Mutter ganz selten.

Fragen: sgi

Vera Steins neues Buch heißt „Menschenfalle Psychiatrie“, Karl F. Haug Verlag.

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