: Karlsruhe gibt Medizinerin eine Chance
Eine Mutter von Zwillingen kann vielleicht doch noch praktische Ärztin werden, befindet das Bundesverfassungsgericht. Die Frau hatte Teilzeit gearbeitet und sich dadurch im Wirrwarr der EU-Richtlinien verstrickt. Jetzt entscheidet der EuGH
FREIBURG taz ■ Das Bundesverfassungsgericht hat die Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in Luxemburg gegen selbstherrliche deutsche Gerichte verteidigt. Es hob damit ein Urteil des in Berlin sitzenden Bundesverwaltungsgerichts auf. Die Berliner Richter hätten, so der Vorwurf aus Karlsruhe, in „offensichtlich unhaltbarer Weise“ darauf verzichtet, dem EuGH einen Fall zur Prüfung vorzulegen. Konkret ging es um eine Hamburger Medizinerin, die sich zur praktischen Ärztin qualifizieren wollte.
Nach der Geburt von Zwillingen war die Frau nur noch in Teilzeit tätig. Einer EU-Richtlinie zufolge musste sie jedoch im Rahmen der Ausbildung mindestens sechs Monate in Vollzeit arbeiten. Die obersten deutschen Verwaltungsrichter lehnten die Anerkennung der Frau als praktische Ärztin deshalb ab.
Die Frau glaubt jedoch, dass die EU-Ärzte-Richtlinie gegen anderes EU-Recht verstößt. Insbesondere sei die Pflicht zur Vollzeit-Ausbildung diskriminierend, weil vor allem Frauen in Teilzeitstellen beschäftigt sind. Mit einer Verfassungsbeschwerde erreichte die Medizinerin nun, dass der Fall doch nach Luxemburg verwiesen wird. Das Bundesverwaltungsgericht hatte hierauf verzichtet und die europarechtlichen Fragen einfach selbst entschieden: Die EU-Ärzte-Richtlinie von 1993 gehe der bereits 1976 erlassenen EU-Gleichstellungs-Richtlinie vor.
Genau diese Frage will Karlsruhe nun aber vom Europäischen Gerichtshof klären lassen, der bei der Auslegung von EU-Recht „gesetzlicher Richter“ sei. Er müsse entscheiden, welche von den beiden EU-Richtlinien hier das stärkere Gewicht habe. Außerdem könne er die EU-Ausbildungsrichtlinie an europäischen Grundrechten messen. Der europäische Grundrechtsschutz liefe ins Leere, betonte Karlsruhe, wenn dem EuGH entsprechende Fälle erst gar nicht zur Prüfung vorgelegt werden.
Die Chancen der Medizinerin in Luxemburg stehen recht gut. Schon bisher hat sich der EuGH stark gegen die Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten eingesetzt, da er hier eine „mittelbare Benachteiligung“ von Frauen sieht. Der EuGH kann derzeit zwar nicht die noch unverbindliche Europäische Grundrechte-Charta anwenden. Mit seiner Rechtsprechung hat er aber selbst europäische Grundrechte entwickelt. (Az: 1 BvR 1036/99)
CHRISTIAN RATH
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