: Eine Schule der Widerborstigkeit
Wie weit weg ist 68? Nicht so weit, wie uns selbst die Verteidiger von Joschka Fischer glauben machen wollen. Anmerkungen zu der Entscheidung der Linken, nicht zu gewinnen, und dem langen Lauf der deutschen Protestbewegungen zu sich selbst
von MICHAEL WILDENHAIN
1.
Im Jahr 1959 erschien in England ein schöner kleiner Roman mit dem Titel „The Loneliness of the Long-Distance Runner“ von Alan Silitoe. Das Buch – der Umschlag meiner Taschenbuchausgabe zeigt ein rennendes Strichmännchen in einem Hamsterlaufrad – hat drei Teile. Der zweite Teil beschreibt in einer langen Rückblende den Einbruch, der den Held der Geschichte in einem borstal landen lässt, einem geschlossenen Erziehungsheim. Der Beginn der Erzählung, ein langer Monolog, zeigt den jungen Mann während seines Trainings. Es ist fünf Uhr morgens. Der Läufer ist allein. Während er seine Runde rennt, denkt er über sich und die Welt nach.
„Aber jetzt, wo sie mir das Messer gezeigt haben – egal, ob ich je in meinem Leben noch mal was klau oder nicht –, jetzt weiß ich, wer meine Feinde sind und was Krieg ist. Sollen sie meinetwegen so viele Atombomben werfen, wie sie wollen: Nie werde ich das als Krieg bezeichnen und eine Soldatenuniform anziehen, denn ich steh in einem Krieg andrer Art, den die wieder für ein Kinderspiel halten.“
Die deutschsprachige Ausgabe „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ kam 1967 heraus, in dem Jahr, als Benno Ohnesorg am 2. Juni erschossen wurde. In dieser Zeit und in den darauf folgenden Jahren werden viele ähnlich empfunden haben wie der Läufer in dem Buch.
2.
Das Eigentümliche an zahlreichen Stellungnahmen zum Fall Joschka Fischer ist folgender Umstand: Gerade diejenigen, die ihm mehr oder weniger sympathisierend gegenüberstehen, betonen übereinstimmend, wie fern die Jahre doch seien, wie unwirklich die Kämpfe damals und wie verworren die Gedanken und Gefühle der Beteiligten.
Für mich begann die Zeit, die gemeint ist, spät. Ab Mitte der Siebzigerjahre kamen die ersten Lehrer oder Referendare, oft Referendarinnen an die Schule, die anders waren als der bisherige Lehrkörper. Sie waren auch anders als unsere Eltern, die Hauswarte und Vorturner oder mit wem man sonst noch aneinandergeraten konnte. Nicht nur gaben sie sich solidarischer im Umgang mit den Schülern, weniger autoritär und nicht von oben herab. Sie verknüpften diese Umgangsformen auch häufig – in der Regel unausgesprochen – mit einem umfassenden politischen Anspruch. Obwohl es den meisten von uns ziemlich egal gewesen sein dürfte, wofür diese Lehrer politisch standen: für welches China, Albanien oder Vietnam, waren sie ein leuchtendes Vorbild. Ein Beispiel, das umso nachhaltiger wirkte, wenn sie von der Schule gedrängt oder relegiert worden waren.
Die uns wichtigen Lehrer hatten eine Niederlage erlitten. Aber es war eine Niederlage, die deutlich machte, dass wir mit unserer Renitenz, der Widerborstigkeit im Alltag, nicht unbedingt falsch lagen. Gleichzeitig lernten wir eine Art Ungerechtigkeit sowie eine Form der Konfrontation mit ihr kennen, die über die Auseinandersetzung mit einzelnen Autoritäten hinausging. Etwas war faul, und wenn wir nach dem Abitur zusammensaßen, wünschten wir uns, 1968 nicht erst acht oder neun Jahre alt gewesen zu sein, sondern die Zeit miterlebt zu haben. Damals war was los, damals ließ sich etwas ändern – alles, dachten wir.
3.
1980 begannen in Zürich die Jugendunruhen. Eine Parole, die den Impuls dieser Bewegung zusammenfasste, lautete: „Schade, dass Beton nicht brennt.“
Es war eine Parole, die wir uns zu Eigen machten, als Ende 1980/Anfang 1981 die Hochzeit der Hausbesetzungen begann und mit den Protesten in Brokdorf, in Gorleben und an der Startbahn West auch andere soziale Bewegungen einen Aufschwung nahmen. Was die Lehrer durch ihr Beispiel aufgezeigt hatten, sollte nun verwirklicht werden.
1968 schien noch einmal stattzufinden, in größerem Umfang und, so meinten wir, mit größerer Entschlossenheit. Fragen der Gewalt waren dabei, so weit es den politischen Inhalt, das durchzusetzende Ziel betraf, nachrangig – und wurden, was die Form anging, sehr moralisch diskutiert. Nur war die Moral eine andere, weil der Blickwinkel auf die Gesellschaft ein gänzlich anderer war als heute.
Wir verstanden uns nicht als Teil der Gesellschaft, sondern als grundsätzlich oppositionell, als antagonistisch in jeder Hinsicht. Wir waren eine Zeit lang der hochfahrenden Meinung, in unseren besetzten Häusern dem Staat trotzen zu können und auf die Gesellschaft nicht angewiesen zu sein. Und obwohl uns die Aktionen der RAF abgehoben vorkamen und ihre vermeintlich antiimperialistische Politik einigermaßen krude, waren wir mit den Hungerstreiks der Gefangenen selbstverständlich solidarisch: „Menschen sterben, und ihr schweigt / Scheiben klirren, und ihr schreit.“
Unser Vorbild aber wurde, wenn überhaupt, der italienische Spontaneismus, eine linksradikale Bewegung, die auf die spontane Erhebung der Massen setzte (und vor allem: hoffte) und sich sowohl von den italienischen Roten Brigaden als auch von der KPI und den ihr nahen Gewerkschaften politisch abgrenzte. Dem Begriff Spontaneismus ist das Wort Sponti entlehnt, das im Zusammenhang mit Joschka Fischer häufig genannt wird.
Was wir während der beginnenden Achtzigerjahre nicht bedacht haben oder vielleicht nicht bedenken konnten, war der Umstand, in welch hohem Maß sich unsere Anstrengungen im Schatten, in der Windstille des anscheinend weltpolitischen Patts abspielten. Und was wir nicht bemerken oder nicht akzeptieren wollten, war, dass unsere Heroen sich längst von der vermeintlich großen antikapitalistischen Revolte ab- und der Grünen Partei zugewandt hatten.
Zunächt waren sie damit nicht mehr als eine weitere schillernde Sumpfblüte im flachen Teich der meist außerparlamentarischen Opposition. Erst der weltweite Umbruch 1989/91 hat sie zu eifrigen Apologeten des herrschenden Zustands gemacht.
Weil die kapitalistische Welt als glänzender Sieger der zentralen Auseinandersetzung des letzten Jahrhunderts dasteht, können die Kommentatoren sich nun bei der Rückschau auf die Siebzigerjahre verwundert vor die Stirn schlagen und indigniert murmeln: eine absonderliche, ganz und gar fremde Zeit.
Nur wird die Debatte um die fraglichen Ereignisse einigermaßen lächerlich, wenn der starke antikapitalistische Impuls, der alle Beteiligten über ihre Differenzen hinweg geeint hat, weit gehend unberücksichtigt bleibt.
4.
Vielleicht hat trotzdem alles seine Richtigkeit. In einem Interview kurz vor seinem Tod wurde Jürgen Kuczinsky gefragt, ob er je am Sieg des Sozialismus gezweifelt habe. Seine Antwort: „In der Anfangszeit nicht. Schließlich zweifelt auch niemand an der Gültigkeit des Gravitationsgesetzes und der Existenz der Schwerkraft.“
Inzwischen ist der Apfel, plumps, vom Baum gefallen.
Vielleicht aber bleiben dennoch zwei Aspekte im Zusammenhang mit Joschka Fischer offen, und die haben – eventuell – miteinander zu tun.
In einem weiteren Interview, diesmal mit Heiner Müller, hat der Dramatiker auf die Frage, ob er an ein Wiedererstarken einer radikal-oppositionellen Bewegung glaube, sinngemäß geantwortet: Es gäbe immer eine „Aspiration von unten“.
Mag sein, dass der Impuls der Neuen Linken und der vielen Protestbewegungen seit den Sechzigerjahren, sich diesen „Blick von unten“ zu Eigen zu machen, nicht selten alberne Ergebnisse zeitigte (und manchmal ein wenig an Suppenküchensolidarität erinnerte). Doch der Versuch war weit ehrenwerter und erheblich intelligenter als die heute pauschal vertretene Prämisse: Es ist immer der Tüchtige, der die dicksten Kartoffeln erntet.
Mag auch sein, dass die Initiativen der Neuen Linken nicht mehr als die Geburtswehen eines neu sich formierenden Bürgertums waren, eines Bürgertums, das inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Das europaweite Erstarken der Neorechten und Rechtsextremen aber zeigt, wie verheerend es ist, wenn die, die nur hin und wieder ein mageres Pommes frites abbekommen oder das zumindest glauben, sich bei der politischen Linken nicht mehr aufgehoben wissen.
Die zweite Frage lautet: Warum ausgerechnet Außenminister?
Die Protagonisten der grünen Partei führen zur Rechtfertigung ihrer Biografien gerne an, sie hätten sich gegen die Kontinuitäten des Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft aufgelehnt und diese Gesellschaft so erst nachhaltig zivilisiert. Das klingt gut, lässt den Versuch einer „Revolution gegens kapitalistische Schweinesystem“ außen vor und ist auch nicht völlig unzutreffend.
Ein mindestens ebenso relevanter Antrieb fürs Engagement war jedoch antiimperialistischer Art – und begründete, neben einer weit reichenden Solidarität mit der Dritten Welt, auch die RAF. Erster und folgenreichster Höhepunkt aber war der Protest gegen den unerklärten Krieg der USA in Vietnam.
Mitte der Siebzigerjahre war der Krieg vorbei, und wenn ich mit einem Freund von der Schule nach Hause ging, diskutierten wir die Frage, ob China und die Verhältnisse dort vorbildlich oder abzulehnen seien.
Unser Informationsstand war dürftig, die Debatte hitzig und die Rollen klar verteilt. Mein Freund, der mit dem Gedanken spielte, sich einem der kommunistischen Schülerbünde anzuschließen, plädierte für das ferne Land. Ich hingegen vertrat die Thesen meines Vaters, der China für ein Reich des Bösen hielt und Demonstranten als Penner bezeichnete, die er „nach drüben“ wünschte.
Die Beschäftigung mit fernen Ländern hatte schon seinen Sinn. Was den Achtundsechzigern und allen folgenden Protestgenerationen trotz aller Anstrengung nicht gelang, war eine wirkliche Verbindung mit der viel beschworenen heimatlichen Arbeiterklasse und den unterprivilegierten Schichten in unserem Land. Das vermeintlich revolutionäre Subjekt verweigerte sich jedem Mobilisierungsversuch außer dem der Gewerkschaften (die nie eine stärkere Position als zu Zeiten des real existierenden Sozialismus hatten). Die westdeutschen Arbeiter besuchten die Verwandtschaft in der DDR, bildeten sich ein Urteil, verwalteten den eigenen Kleingarten und freuten sich am zunehmend längeren Urlaub und am langsam wachsenden Bausparkonto. Aus der Perspektive des heute herrschenden Zeitgeists muss jene Arbeiterklasse – retrospektiv betrachtet und ganz im Sinne ihrer Funktion bei Marx – wie eine ungemein kühne Avantgarde wirken.
Vielleicht resultiert gerade daraus eine gewisse Geringschätzung des neuen Bürgertums gegenüber den ihm doch gar nicht mehr so fernen Schichten. Ein schlagendes Indiz ist die oft zu hörende Floskel, etwas sei geradezu „prollig“.
Für die Neue Linke ergab sich aus der Weigerung der potenziellen Gefolgschaft ein Problem. Deshalb projizierte sie ihren Wunsch nach revolutionärer Umwälzung auf fernere Gefilde und führte heiße Debatten, ob nun die chinesische oder die albanische oder die nicaraguanische oder weiß der Kuckuck welche Gesellschaft die politisch korrekte sei.
Heute haben wir zur Entscheidung dieser Frage einen Außenminister, unter dessen Beratern sich gewiss jemand findet, der früher von den Faschisierungstendenzen der BRD gesprochen hat und heute dem Diktum seines Dienstherren folgt, auf dem Balkan Auschwitz zu verhindern.
5.
Im dritten Teil von Silitoes Erzählung tritt der Langstreckenläufer bei einem Wettkampf an. Er soll für seinen borstal einen Pokal gewinnen, auf den der Direktor der Erziehungsanstalt großen Wert legt. Nur deshalb durfte unser Held vor dem Frühstück allmorgendlich seine Runde drehen, die ihm jedes Mal das Gefühl von Freiheit gab.
Nach einem harten Rennen sieht es aus, als ginge der Läufer als klarer Sieger durchs Ziel. Kurz vor der Ziellinie bleibt er jedoch stehen und lässt einen Konkurrenten aus einem anderen geschlossenen Heim an sich vorbeiziehen. Die Entscheidung, nicht zu gewinnen, war sein langer Lauf zu sich selbst.
Der Autor lebt in Berlin. 1991 erschien seine Auseinandersetzung mit der Hausbesetzerszene „Die kalte Haut der Stadt“. Zuletzt veröffentlichte er den Roman „Erste Liebe, Deutscher Herbst“
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