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Überleben ab Faktor 0,7

von BARBARA DRIBBUSCH

Ein Glück, dass es die Canela gibt. Wenn der Stamm am Amazonas nicht existierte, müsste man ihn erfinden. Bei den Canela nämlich hatten die Frauen mehrere Männer gleichzeitig. Diese sorgten gemeinsam für die Kinder, die aus den Liebschaften entsprangen. Die „teilbare Vaterschaft“ wurde am Amazonas bis vor wenigen Jahrzehnten gepflegt, fand der US-amerikanische Ethnologe William H. Crocker heraus. Die eheliche Treue, so sein Forschungsergebnis, ist keinesfalls naturgegeben.

Um zu diesem Schluß zu kommen, hätte man zwar nicht unbedingt am Amazonas herumreisen müssen (eine diskrete Umfrage unter hiesigen verheirateten Frauen hätte genügt), aber nichts zählt heute mehr als eine stammesgeschichtliche Ableitung von Geschlechterverhalten. Die „teilbare Vaterschaft“ der Canela, mutmaßten Anthropologen, war für die Nachkommen offenbar ein Überlebensvorteil.

Um diesen Selektionsvorteil geht es in der Evolutionsbiologie. Danach wird das Verhalten der Menschen durch eine uralte Programmierung bestimmt: Die eigenen Gene in gesunden Nachkommen weiterzugeben und deren Überleben zu sichern. Den Gedanken einer „natürlichen Zuchtwahl“ hat zwar Charles Darwin schon vor 140 Jahren verbreitet. Seit einigen Jahren aber erlebt die Evolutionsbiologie eine Renaissance. Der Wechsel vom Glauben an Erziehung, an gesellschaftliche Konditionierung hin zum Glauben an die Natur, an Genetik und Hirnphysiologie sei „das große intellektuelle Ereignis des späten 20.Jahrhunderts“ staunt der US-amerikanische Essayist Tom Wolfe.

Die Frage, welches Verhalten von Männern und Frauen stammesgeschichtlich und damit angeblich genetisch vorprogrammiert sei, hat sich zu einem hochpolitischen Streit entwickelt. Die Grundfrage dahinter lautet: Wer ist „von Natur aus“ dominanter und handlungsfähiger, Männer oder Frauen? Der US-amerikanische Artenforscher Edward O. Wilson, dem Gegnerinnen bei einem Vortrag an der Harvard University schon Eiswasser über den Kopf kippten, erregte viel Ärger mit seiner These, dass die Männer von Natur aus sexuell aggressiver und weniger treu seien als die Frauen, weil sie ihre Gene möglichst breit streuen müssten.

Männchen mit Status

Eine für Frauen nicht sehr erfreuliche These vertritt auch der US-amerikanische Psychologe David Buss, der tausende von Personen befragte, was sie denn am anderen Geschlecht besonders schätzten. Aus den Antworten destillierte er ein angeblich kulturunabhängiges, dem Menschen eigenes Verhalten. Laut Buss suchen weltweit Frauen Männer vor allem danach aus, ob sie materielle Sicherheit und Status versprechen – und damit für ihren Nachwuchs die besten Überlebenschancen. Männer hingegen schauten bei den Frauen vor allem auf körperliche Schönheit, weil das gesunde Nachkommen garantiere.

Andere Wissenschaftler ermittelten sogar das von Männern als attraktiv empfundene Maßverhältnis von Taille zu Hüfte bei der Frau: Es ist 0,7. Angeblich deutet es auf hohe Fruchtbarkeit hin. Auch die US-amerikanische Psychologin Nancy Etcoff stellte in Studien wenig überraschend fest, dass Männer einer schönen Frau gegenüber hilfsbereiter sind. Geld leihen wollten sie der Schönen allerdings lieber nicht, weil sie „die Unabhängigkeit der Frau nicht wollen. Sonst käme sie vielleicht nicht mehr zurück“, glaubt Etcoff. Würde sich der soziale Status tatsächlich bei Männern nach dem materiellen Erfolg und bei Frauen nach der körperlichen Attraktivität richten, hätten die Frauen das Nachsehen: An seiner beruflichen Karriere kann man nämlich arbeiten, an den 0,7 aber kaum. Materieller Besitz hält zudem länger vor, körperliche Schönheit aber schwindet rasch. Und reiche Männer könnten danach auch noch in hohem Alter schöne Frauen bekommen und mit ihnen Nachkommen zeugen. „Insofern war die Evolution nicht fair zu den Frauen“, behauptet Buss.

Die Frauen aber haben wenig Lust auf eine Evolutionsbiologie, die sie zu schicksalsergebenen Sexualpartnerinnen der Männer degradiert. Kein Wunder also, dass sich längst eine schlagkräftige Gegnerschaft entwickelt hat. Mit Verweis auf Naturvölker am Amazonas und anhand von Beobachtungen an Affen versuchen zumeist Forscherinnen das angebliche Muster der aggressiven Männchen und passiven Weibchen zu erschüttern. Schönheit allein reichte nämlich auch in der Vorzeit keineswegs aus, um evolutionsbiologisch erfolgreich zu sein, so die US-amerikanische Soziobiologin Sarah Blaffer Hrdy. Vielmehr „war eine Pleistozän-Frau, die sich allein auf ihr Aussehen verließ, um Kinder durchzubringen, kaum sehr lange Mutter und hinterließ mit großer Wahrscheinlichkeit keine Nachkommen“. Zum Überleben brauchte es noch andere Fähigkeiten.

Auch die Hinwendung zu „erfolgreichen“ Männern muss keineswegs stammesgeschichtlich einprogrammiert sein, so Hrdy. „Wir leben in einer Welt, in der „Männer die Ressourcen kontrollieren, die Frauen für die Fortpflanzung brauchen“. Die Bevorzugung erfolgreicher Männer könnte deshalb auch nur eine Art erzwungeneAnpassungstrategie der Frauen sein, um das Überleben der Nachkommen zu sichern. Für Hrdy ist der Konkurrenzkampf der Männchen um die Weibchen in der Tierwelt ohnehin kein Zeichen von evolutionärer Dominanz. Die heftige männliche Konkurrenz in der Evolution habe sogar zu „traurigen Fehlentwicklungen“ geführt: Männliche Languren-Affen töten beispielsweise den von ihren Vorgängern gezeugten Nachwuchs, wenn sie sich mit einem Weibchen zusammentun.

Die These von der einprogrammierten weiblichen Treue wurde gleich mehrfach erschüttert. Nicht nur pflegen einige Amazonas-Kulturen die „teilbare Vaterschaft“, auch in der Tierwelt ist es mit den passiven monogamen Weibchen nicht weit her. Zu gewissem Ruhm kam eine Schimpansen-Studie des Primatologen Christophe Boesch, nach der die Weibchen einer Affengruppe überraschend häufig Nachkommen von Männchen bekamen, die gar nicht zum Clan gehörten. Bei vielen Erklärungsversuchen zeigte sich, dass ein bestimmtes, als evolutionär bedingtes Verhalten, eigentlich genauso umgekehrt gedeutet werden könnte. Ein ausschweifendes männliches Sexualleben führt beispielsweise keinesfalls zum „Überleben der Tüchtigsten“: Schließlich sind die Kinder aus flüchtigen sexuellen Beziehungen eben oft gerade nicht durch väterliche Fürsorge geschützt.

Kontra-Evolution

Auch die sozial mächtigen Männer, die in höherem Alter noch Kinder zeugen, handeln letztlich gegen die Gesetze der Evolution, stellt der holländische Biologie Midas Dekkers fest. Schließlich existieren meist schon zeugungsfähige Nachkommen (etwa aus erster Ehe), die den kontinuierlichen Verbesserungsprozeß fortführen könnten, ohne dass der Althengst auch noch seine eigene Enkelgeneration in die Welt setzen müßte. Im Pleistozän gab es weder Porsche noch Kreditkarten.

Die „wahre“ Natur von Männern und Frauen gibt es also nicht. Genau deswegen bestimmt die Suche nach dieser letzten Wahrheit die Gespräche an Kneipen- und Küchentischen, so als handele es sich um eine neue Hochreligion. Auch die Bio-Feministinnen definieren den Wert der Frauen dabei letztlich über Mutterschaft. Gerade die Gesellschaft sucht also nach stammesgeschichtlichen Erklärungsmustern, die sich kontra-evolutionär verhält. In den westlichen Zivilisationen gehört die Mehrheit bald zu den evolutionsbiologisch Überflüssigen: Viele haben keine Kinder oder sind zu alt dafür. Ein neuer Wissenschaftstrend für dieses Phänomen wird noch gesucht.

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