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„TV macht nur Dumme dümmer“

Prozess, in dem der Mensch seine geistig-seelische Gestalt gewinnt, diese Gestalt selbst („innere Bildung“); Wissen.

INTERVIEW PETER UNFRIED

taz: Herr Freise, man hat unlängst eine Fernsehsendung eigens für Sie erfunden: „Wer heiratet den Millionär?“

Freise: Sehr lustig. Diese Show erinnert mich dort stark ans mittelalterliche kanonische Recht. 1

1 = Stopp! Bitte beantworten Sie vor dem Weiterlesen Frage 1 des Bildungsquiz auf Seite 7).

Da gibt es einen Passus, die so genannte desponsatio inpuberum 2. Die Kirche hatte entschieden etwas dagegen, dass die Adligen ihre drei-, fünf-, siebenjährigen Kinder miteinander verlobten. Alle Heiratskandidaten in diesen Shows sollten überlegen, ob sie überhaupt heiratsreif sind – a) was das Alter und b) was die geistige Reife angeht.

Da fehlt es bei Ihnen ja nicht.

Ja. Aber schon bei Juvenal gibt es ja in der berühmten sechsten Satire eine Warnung vor der Hochzeit 3.

Eine wunderbare Satire.

Also gut: Ich halte diese Millionär-Hochzeits-Shows für absolut obszön. Inzwischen sind die Sender ja selbst darauf gekommen.

„Wer wird Millionär?“ finden Sie dagegen großartig. Warum ist das eine gut, das andere böse?

Sehen Sie mal: Erst wurde von einer Zlatkoisierung des Fernsehens gesprochen. Dann hieß es, die Zlatkoisierung sei mit Jauchs Show beendet. Ich sage: Das sind Parallelwelten, und beide haben natürlich ihre Daseinsberechtigung.

Inwiefern?

Zlatko muss nichts von Shakespeare wissen, das braucht er als Automechaniker nicht, oder wenn er irgendwelche Schlager singt. Man kann ihn aber darauf aufmerksam machen, dass es noch etwas außerhalb seiner Welt gibt. Wenn er das respektiert, ist schon viel erreicht.

Was ist das Gute an „Wer wird Millionär?“?

Es ist eine Show, die – sei es auch nur rudimentär – auf Denksport und Erinnerungssport zielt. Man reminisziert ja Bildungssplitter, die irgendwo vergraben sind auf der Gehirnfestplatte. Das bringt wirklich etwas von Aufklärung mit sich.

Wieso?

Sie werden sich bewusst, dass es tatsächlich Dinge gibt, deren man sich entsinnen könnte. Wenn Sie die in einem zweiten Schritt nachschlagen, stoßen Sie zu einer Schicht, die dann wirklich Bildung ist.

Was noch?

Es ist die comédie humaine 4. Sie kriegen eine unglaubliche Vielfalt von menschlichen Charakteren in einer bestimmten, immer wieder gleich formalisierten Extremsituation.

Und Jauch?

Ist der passende Katalysator. Er nimmt sich so zurück, dass der Kandidat im Prinzip, wenn er es richtig macht, mit sich selbst spielt und mit seinen eigenen Erinnerungen von Bildung.

Sie sind immer noch der einzige Millionär, den dieses Format hervorgebracht hat. Was hat denn das zu bedeuten?

Eigentlich gar nichts. Es ist nur eine Frage der Zufälle.

Gibt es Zufall überhaupt?

Es gibt im Mittelalter den Begriff des Rades der Fortuna. Man denkt heute, dem seien die mittelalterlichen Zeitgenossen ausgeliefert gewesen. Das stimmt aber nicht: Sie konnten der Fortuna entrinnen. Nämlich durch fortitudo 5. Und durch justitia, durch wie auch immer praktizierte Moral und Ethos.

Herr Freise?

Das heißt: Es ist natürlich ein Zufall, dass ich da reingekommen bin, und es ist ein Zufall, dass ich bisher der Einzige bin, der bis zur Million gekommen ist. Es hat aber ein bisschen damit zu tun, dass ich versucht habe, der reinen Fortuna zu entkommen.

Sie haben gezockt?

Nein. Ich habe nur die Chancen abgewogen. Meine Karten waren nicht ausgereizt. Das ist nicht Zockertum. Zockertum ist, gegen die Wahrscheinlichkeit doch auf etwas zu setzen.

Sie hatten die nötige fortitudo.

Es klingt jetzt etwas überheblich, ist es aber nicht. Ich habe nur einfach meine Erfahrungen ausgelotet und habe es mir zugetraut. Bei der Millionenfrage, behaupte ich mal so frech, sitzen 90 Prozent der Leute da, die weniger Assoziationsfähigkeit und Wissen haben als ich.

Was ist mit den anderen los?

Ich bin sicher, von den 250.000-Mark-Leuten hätten auch einige Millionär werden können, sie haben sich nur nicht getraut.

Ihre Klippe war die lumpige 2.000-Mark-Frage.

Ja. Ich wurde nach den „Doofen“ gefragt. 6 Und mir fiel ein, dass ich mal einen Fanclub der 60er im IC mitgekriegt hatte. Die sangen immer „ob ich miefe, ob ich stinke“. Und da habe gesagt, was singt ihr da eigentlich?

Das war’s?

Ja, dass ich das fünf Jahre später mal verwenden könnte . . . merkwürdig. Schauen Sie, ich hatte die Bild-Schlagzeile schon formuliert: „Geldgeiler Prof scheitert an den Doofen!“ 7 War das gut?

Sehr gut. Die Doofen, „Big Brother“ – Personal wie Daniela und Karim – gehört das zum neuen Bildungskanon?

Nein. Aber das, was unter die klassischen Kategorien der Bildung fällt, hat sich ungemein ausgeweitet. Das Medium, das dieses zerklüftete, ständig wachsende Bildungsgebirge selbst darstellt, das ist das Internet. Verzweifelte Versuche von Bildungstheoretikern und Bildungspuristen wie Schwanitz, Korsettstangen in einen Wissenskanon einzuziehen, sind völlig überholt. 8

Muss man Dietrich Schwanitz’ Werk „Bildung“ gelesen haben?

Natürlich nicht. Schauen Sie, Schwanitz lehnt das Wissen über irgendwelche Boxer der 60er-Jahre ab. Oder Andi Möller . . . 9

Wer ist Andi Möller?

Wer das fragt, missversteht völlig, dass zum kulturellen Gedächtnis genau diese Dinge auch gehören. Die Universität muss darauf Rücksicht nehmen, dass sich die Bildungsansprüche des Einzelnen sehr stark individualisiert haben. Sie muss die Wegweiser aufstellen. Und diese Wegweiser sind wirklich alles andere als ein Wissenskanon, den man zwischen zwei Buchdeckel klemmt.

Wegweiser zu Daniela und Karim?

Auch. Leopold von Ranke hat den schönen Spruch gesagt: Alle Epochen sind gleich nahe zu Gott. 10 Wenn Sie das übertragen und keinen elitären Bildungsbegriff haben, dann kommen Sie zwangsläufig auf das kulturelle Gedächtnis, das der Einzelne in sich trägt, weil er Mitglied einer Gruppe ist. Dann haben natürlich Daniela und Karim ihre Berechtigung. Für eine bestimmte Zeit. Wie viele Schriftsteller des 18. Jahrhunderts sind heute zu Recht vergessen? Oder denken Sie an Salieri.

Den Namen kennt jeder Doofe.

Aber nur, weil Forman den Mozart-Film gedreht hat. Sonst hätte er nur noch für Fachleute Erinnerungswert. 11

Was ist mit Opern? Muss man darüber Bescheid wissen?

Ich behaupte, man muss als 20-Jähriger nicht mehr wissen, dass „Turandot“ von Puccini nicht zu Ende komponiert worden ist. 12

Nehmen Sie mal Harald Schmidt. Oder mich. Solche Leute können auf das Stichwort „Vanity Fair“ noch grade „Thackeray“ brummen. Mehr nicht.

Immerhin. Das Problem ist ja, dass Bildung sich in den letzten 30 Jahren nicht nur akkumuliert, sondern vervielfältigt hat, dann brauchen Sie solche Impulse.

Wozu?

Der Impuls selbst hat nichts mit Bildung zu tun, sondern ist ein Erinnerungsreflex. Es schießt durch Ihre Gehirnwindungen ein vager Gedankensplitter. Das ist eigentlich nur Memory. Aber es ist auch der Ausgangspunkt für Bildung.

Und dann?

Schauen Sie in der Encyclopaedia Britannica nach, weil es Sie interessiert. Die Universität macht zum Einstieg letztlich nichts anderes.

Das klingt ja optimistisch.

Ja. Es gibt eine Renaissance der Bildung, und ich würde auch sagen, es ist eine andere Art von Bildungsbürgertum. Das frühere Bildungsbürgertum war elitär, war hierarchisch geordnet. Das ist nicht zu halten.

Sie sprechen Latein. Das ist sehr elitär.

Natürlich sind Studierende des Jahres 2001 dazu nicht in der Lage. Sie können auch nicht die Metamorphosen des Ovid auf dem gleichen Bildungslevel lesen wie Lateinstudenten des Jahres 1970. Man muss aber nicht über Ovid einsteigen, um als gebildet zu gelten. 13

Bildung soll natürlich auch Werte vermitteln.

Die Wertevermittlung passiert eher indirekt.

Was leistet das Fernsehen da? Nichts?

Es gibt den klugen Satz, dass kluge Leute durch Fernsehen noch klüger werden und dumme noch dümmer. Aber Fernsehen befriedigt ein Grundbedürfnis des Menschen – die Neugier. Neugier ist die Grundlage, sein eigenes Ich in der Gesellschaft ständig neu zu verorten.

Beim Betrachten von „Girls Camp“ oder Aleksandra Bechtel? 14

Jetzt fallen Sie genau in die Fallen hinein, die Ihnen aufgestellt sind. Sie müssen fragen: Was kann man als Intellektueller von „Big Brother“ lernen außer gebührendem Abscheu?

Was?

Kennen Sie „Herr der Fliegen“? Die englische Schulklasse, die auf einer einsamen Insel strandet und dann plötzlich miteinander auskommen muss, es aber nicht kann. Es ist eine menschliche Grundsituation. Genauso ist „Big Brother“ nicht nur Exhibitionismus. Es geht um, ja, eine Art Erfahrung.

Was ist mit „Christiansen“? Welche wichtigen Erfahrungen kann man da machen?

Ich kenne Sabine Christiansen, sie ist privat eine sehr nette Person.

Herr Freise, wollen Sie nicht doch endlich diese ganze Trivialisierung der Gesellschaft anklagen? Und ihren Motor, die Medien?

Nein. Ich sage Ihnen doch: Auch eine schlechte Sendung kann die richtigen Impulse aussenden. Es gibt eine wunderschöne Umkehrung eines Sprichwortes, das heißt: Lerne klagen, ohne zu leiden. Die Gesellschaft klagt, aber leidet sie wirklich? Und denken Sie an Jacques Offenbach.

Orpheus in der Unterwelt?

Genau. Da tritt eine Figur auf, die öffentliche Meinung.

Bild?

Ja, aber die ist ja nicht alleine. Die öffentliche Meinung ist ja ein Spektrum. Solche Leute wie Stefan Raab, Harald Schmidt und taz haben auch ihre Funktion. Die werden irgendwelchen Auswüchsen wie der Millionärsheirat nicht mit moralinsaurer Entrüstung entgegentreten, sondern mit Ironie oder Häme.

Das finden Sie gut?

Natürlich. Sie können die Trivialisierung nur bekämpfen durch Ironie und Selbstironie. Sie brauchen aber beides. Was dem Spiegel ein wenig fehlt, ist die Selbstironie, darum ist er auf einem leicht absteigenden Ast.

Was ist mit der, äh, Moral?

Die Moral kommt ja indirekt zum Zuge. Wollen Sie Moral wieder vordergründig plakatieren?

Es gibt Moralisten, die der Ironie vorwerfen, sie beschädige die Moral.

Das ist falsch. Völlig falsch.

Was ist mit jungen Menschen?

Wir haben auch bei Kindern, also bei Anfängern, oder bei Leuten, die nicht so richtig mit Intelligenz gesegnet sind, die Neigung zum Paradigmenwechsel. Das meine ich mit Neugier. Und das ist unsere Chance.

Wieso?

„Das frühere Bildungsbürgertum war elitär und hierarchisch.Das ist nichtzu halten.“

Klassiker sind deswegen Klassiker, weil sie eben gerade mehrdeutig sind, hintergründig und auch nach der ersten Modewelle noch etwas transportieren, was erhaltenswert is. Fußball ist ein Klassiker. Horkheimer 15, Adorno und Eckhard Henscheid 16 – warum sind die solche Fußballfans? Und Jauchs Millionärsshow hat alles, um ein Klassiker zu werden.

Und die verdammten Werte?

Kategorische Imperative wirken auf das zum Teil eingeschüchterte, zum Teil widerspenstige Volk wie ein Robespierre, der den Tugendterrorismus praktiziert. Werte, die wie eine Monstranz vor sich hergetragen werden, stoßen ab. Um Gottes willen nicht, dann haben Sie die Tugendterroristen. Schauen Sie, ich habe die 70er-Jahre mitgemacht, der gute Fischer, den man heute einen Opportunisten schimpft. 17

Tut man dem guten Fischer da Unrecht?

Letztendlich hat er nur erkannt, dass das, was er gerne möchte, sein radikaler Moralismus, sein radikaler Idealismus, so wie er es vertritt, zwangsläufig genau dahin führt, dass man irgendwann einen nicht Überzeugten mit Gewalt überzeugen muss. Dann sind Sie bei Robespierre und der Guillotine.

Wenn Sie von Fischer reden: Die Quizshow ist jetzt Teil Ihrer Biografie.

Ja, richtig, das muss ich akzeptieren.

Ohne die wären Sie nicht der, der Sie heute sind . . .

Nein, nein. Die Quizshow hat mich nicht verändert, sie hat mich vielleicht etwas bewusster gemacht. Ich wollte wissen, wie eine solche Situation auf einen Mittfünfziger wirkt, der arrivierter Professor ist. Jetzt weiß ich es.

Ihre Uni feiert sie . . .

Das war für mich eine unglaubliche Überraschung . . .

. . . dafür, dass Sie bei RTL Millionär geworden sind . . .

Ich halte das für keine Schande. Aber in der Beziehung bin ich ein bunter Hund.

. . . um Ihr Haus abbezahlen zu können.

Ja, das ist ein Akt der Altersvorsorge, dass ich mit einem Teil der Million jetzt ein Haus abbezahle, oder ausbaue.

Aus diesem profanen Grund stehen Sie jetzt pars pro toto für die Versöhnung zwischen Akademiker und Quizshow.

Ja, das hat die taz geschrieben, das fand ich unglaublich lustig. Ich habe natürlich das Augenzwinkern bemerkt. Sie wollen die Versöhnung nicht akzeptieren.

Nein.

Ich behaupte auch gar nicht, dass es eine ist. Es ist ja nur ein Impuls. Schauen Sie, ich spiele auf verschiedenen Ebenen.

Kann man das testen?

Bitte, testen Sie mich.

Wenn Ihnen jetzt RTL eine Sendung anböte . . .

Nein.

Wieso nein?

Ist mir scherzhaft schon angeboten worden.

Na also. Da könnten Sie diese Versöhnung . . .

Nein, weil ich als Talkmaster oder als Quizmaster einer eigenen Sendung meine Gäste nicht zu Worte kommen ließe . . .

Da haben Sie einen Punkt.

Ich habe gegenüber RTL gesagt, dass das für mich wie bei Hans im Glück sei. Wieso soll ich mir den Schleifstein eines Medienstars oder Kurzzeitpromis eintauschen? Irgendwann fällt das Ding in den Quotenbrunnen, plumps, ist es weg. Dafür gebe ich doch den Goldklumpen Hochschullehrer nicht her. 18

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