: Leben und Sterben in der Insektenkolonie
Teil der deutschen Pop-Elite sein: Ingo Niermanns Debütroman „Der Effekt“ sucht den unerreichbaren Zustand des Glücks einer älter werdenden Jugend
von OLIVER KOERNER VON GUSTORF
Ute und Dominic. Ute und Doreen. Ingo und Antje. Ein Frühstück im Grünen. Auf den Anfang 1999 in der Londoner Galerie asprey jacques ausgestellten Gemälden seiner Freundin Antje Majewski ist auch der Berliner Autor Ingo Niermann zu sehen, eng umschlungen mit ihr im hohen Gras liegend, mit Freunden beim Picknick in einer Parklandschaft – junge Bohemiens, in fotorealistisch anmutender Klarheit träumend, versunken, entrückt.
So wie Majewski die Wände der Ausstellungsräume mit der Farbigkeit einer Bildergalerie des 19. Jahrhunderts ausstattete oder das Picknick eine Reverenz an Manet sein könnte, betont auch Ingo Niermann die Nähe seines Schreibens zur Literatur derselben Epoche: zum französischen Naturalismus Flauberts oder der Brüder Goncourt, dem englischen Konversationsroman, der psychologisierenden Vermutungsperspektive in Henry James’ Kurzgeschichten.
„Der Effekt“ heißt der soeben im Berlin Verlag erschienene Debütroman des 32-Jährigen. Obwohl von ihm bisher außer einigen journalistischen Veröffentlichungen nicht viel zu lesen war, gilt Niermann als Insider der jungen deutschen Pop-Elite. Er trat bei Leseshows im Umfeld der „Tristesse Royale“-Autoren auf, sein Name findet sich in Elke Naters’ und Sven Lagers „pool“-Projekt, eine Kurzgeschichte erschien in Christian Krachts Anthologie „Mesopotamia“.
So geht es in diesem Erstlingswerk um Partys, Freundschaften und Oberflächen. Es geht um eine Gruppe von Twentysomethings, um Rebecca, um Julius und all die anderen, die ähnlich einer Insektenkolonie miteinander verbunden sind: Wie eine Zelle oder ein menschlicher Körper funktionieren sie als ein einheitliches Ganzes, bewahren ihre Identität im Raum und widersetzen sich dem Zerfall. Sie sind keine Persönlichkeiten, sondern gesichtslose Prototypen, gebunden an den kontinuierlicher Strom eines kollektiven Prozesses. Niermanns Romanfiguren gleichen in ihrer Gesamtheit einem Schwarm oder einem Netzwerk.
Empfindlich getroffen wird dieses Netzwerk, als die junge Rebecca die Leiche ihres Freundes Julius im Badezimmer auffindet und die Umstände seines Todes recherchiert. Was beginnt wie ein Mystery-Thriller, entwickelt sich immer mehr zum Gegenszenario eines Kriminalromans. In ständig wechselnden Erzählperspektiven zeichnet Niermann die Lebenswelt einer hypercoolen und von Drogen geprägten Gesellschaft. Auflösung bedeutet hier nicht die Lösung eines Falls, sondern die Zersetzung autonomer Identität. Es erinnert an die urbane Odyssee David Hemmings in Antonionis „Blow Up“, wenn Rebecca im Laufe ihrer Nachforschungen mit dem Leben verschmilzt, das Julius ihr hinterlassen hat - einem narzisstischen Beziehungsgeflecht aus zweifelhaften Ritualen, Intimitäten, Geschlechterrollen und Obsessionen, die letztendlich auch ihre eigenen sind.
„Ich beschreibe nicht Berlin“, sagt Niermann, „aber ich beschreibe etwas, das gegenwärtig ist. Es spielt nicht in der Zukunft. Das, was ich beschreibe, ist eher prototypisch. Das, was eigentlich das Gefühl, in der Stadt zu leben, ausmacht. Spezifische Details sind nur dann interessant, wenn sie sich direkt kurzschließen mit der Frage: Wie soll ich weiterleben? Wie fühle ich mich?“
Es sieht so aus, als könnten in dem Kosmos, den Niermann entwirft, Befindlichkeiten nur noch im Kollektiv wahrgenommen werden. Die Wirklichkeit des Einzelnen ist entfremdet. Die Suche nach der ultimativen Droge, nach absoluter Nähe, nach einem Zustand des vollkommenen Glücks ist zur Suche nach irgendeinem Effekt verkommen, der den Moment authentischer Wahrnehmung ins Unendliche verlängert. Erlösung bietet letztendlich nur der Tod.
„Der Effekt“ erscheint vordergründig als rätselhafte Erzählung über den Selbstmord, den man entweder selbst begeht oder aber jemand anders an einem ausführen lässt. Lebe schnell, sterbe jung, oder: „Die perfekte Party endet im Tod.“ Dieser unausgesprochene Gedanke Rebeccas lässt verklärte Todessehnsucht vermuten. Dabei geht es nicht um erschöpftes Loslassen, sondern um das Streben nach Perfektion.
„Alles transportiert Bedeutung, hat eine Wirkung. Die Frage ist: Wie kann man diese Wirkung maximieren, perfektionieren?“ Ingo Niermann bekundet klar, worin sein Interesse besteht. „Der Effekt“ beschreibt eine extreme Form der Konversation, die alle noch so banalen Details, Gesten, Phrasen, Kleidung, Architektur, in Verhältnis zu einander setzt, und als finale Mitteilung den eigens bestimmten Tod mit einschließt. Allerdings erweist sich hierbei der Machtverlust, den Krankheit, Alter und Sterben und Trauer mit sich bringen könnten, als absoluter Partyschreck. „Er wollte keine Bewegung, keinen Gedanken, keine Moden nachvollziehen oder verstehen. Und deshalb nicht altern. So altern. Das machte ihn unberechenbar . . .“ Da, wo das Subjekt die Selbstbestimmung aufgibt, wird es Teil eines unendlichen Netzes, Element einer Gemeinschaft von sich beständig austauschenden Objekten, in der Menschen und Dinge unterschiedslos miteinander kommunizieren können. „Kennungen siebten ihn aus. Erst verschwand er hinter seinem Namen, dann verschwand sein Name.“
„Ein Desaster für die jüngere deutschsprachige Literatur“, attestierte Matthias Altenberg in der Woche, während im Jetzt-Magazin zu lesen war, der „rätselhafte“ Niermann habe einen „Wandelgang der Erkenntnis geschaffen“. Einig sind sich die Rezensenten lediglich darin, dass die Lektüre des Buchs eine quälende Erfahrung ist.
„Der Effekt“ ist ein merkwürdiges Dokument der Vermessenheit. Man könnte Niermann hassen für seine Angst vorm Altwerden, fürs zentralbeheizte Elend, das er auf 180 Seiten seinen blutarmen, elitären Gestalten zuteil werden lässt. Man könnte ihn verabscheuen für Sätze wie: „Sie musste sich entscheiden, aber konnte das Durchgearbeitete nicht ertragen.“
Man könnte aber auch die Leistung erkennen, die darin liegt: Die Kontroversen, die Niermanns Buch ausgelöst hat, ähneln den Erschütterungen, die vektorielle Querschläger in einem Netzwerk auslösen können. Etwas scheint außer Kontrolle zu geraten. Obwohl der Roman kein Zentrum hat, keinen Anfang und kein Ende, keinen erkennbaren Rhythmus, hinterlässt er einen nachhaltigen Eindruck. Die sehr reale Verstörung, die er hervorruft, beruht auf der grundlegenden Schwierigkeit, das zunehmend vernetzte Denken einer Literaturszene zu verstehen, die das zentrale „Ich“ immer mehr durch einen Pool ersetzt, in dem sich Sprache selbst ereignet – als Effekt, dessen Ursache nicht ergründbar ist.
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