: Freund der Familie
von CHRISTIAN RATH
Ist er eigentlich noch ein Linker? Jürgen Borchert grübelt eine ganze Weile, bevor er antwortet. Dann kommt er auf die Werte der Französischen Revolution. Ja, die Gleichheit stehe für ihn noch immer im Zentrum, antwortet er schließlich. Wer ihm privat begegnet, hätte eigentlich nichts anderes erwartet. Mit dem schwarzen Hemd, der ausgebleichten Jeans, der Brille und dem Schnauzbart könnte er auch Gemeinschaftskundelehrer sein.
Doch Borcherts politische Mission ist für einen Linken ungewöhnlich. Den grundlegenden Konflikt in der Gesellschaft sieht er weder zwischen Kapital und Arbeit noch zwischen Mann und Frau und auch nicht im Rassismus – sondern vielmehr zwischen Familien und Kinderlosen. Er findet es „ungerecht“, wie wenig die Erziehung von Kindern in unserer Gesellschaft und vor allem in der Renten- und Pflegeversicherung honoriert wird. Nach Borcherts Analyse zahlen Eltern zu viel in die Sozialversicherung ein und bekommen zu wenig heraus. Unter dem Strich profitierten die Kinderlosen. „Transferausbeutung“ nennt Borchert das. „Dabei können nur Familien die Zukunft der Sozialversicherung sichern“, argumentiert er, „denn ohne neue junge Beitragszahler wäre das System sehr bald am Ende.“
Doch wie kommt einer wie er zu diesen Thesen? Borchert wundert sich etwas über die Frage. „Ich habe ja auch keine typische 68er-Biografie“, betont der 51-Jährige, „während des Studiums war ich als Skilehrer beim Hochschulreisedienst aktiv.“ Erst als Borchert Anfang der Siebzigerjahre nach Berlin ging, engagierte er sich in Sozialprojekten und gründete mit seiner späteren Frau, einer Diplompsychologin, Wohngemeinschaften für psychisch kranke Jugendliche. Später mischte der Jurist auch in der Berliner Alternativszene mit und wurde Rechtsberater bei der besetzten UFA-Fabrik, einem alternativen Kulturzentrum. „Einer K-Gruppe hätte ich mich aber nie angeschlossen, dazu war ich viel zu undogmatisch.“
Auf den „Pferdefuß unserer Sozialordnung“ – und dafür hält Borchert die Benachteiligung der Familien – stieß Borchert im Rahmen seiner Dissertation. Eigentlich wollte er nur möglichst flott den Doktortitel erwerben. Doch dann entwickelte er nicht weniger als den Entwurf eines familiengerechten Rentensystems. Dort würde die Erziehung von Kindern genauso hoch bewertet wie die Beitragszahlung.
Vielleicht wäre das aber nur eine Episode geblieben, denn bald schon eröffnete Borchert eine Anwaltskanzlei, „die abging wie die Rakete“. Doch dann wurde seine Frau schwanger und stellte ihn vor die Alternative „Familie oder Büro“. Nach „anhaltendem Widerstand“ entschied er sich dann doch für die Familie, „was wollen Sie machen gegen eine schwangere Frau?“, seufzt Borchert noch heute.
Die Familie zog nun nach Heidelberg und Jürgen Borchert wurde Richter – ein Beruf, der kinderfreundliche Arbeitszeiten bietet, weil das Aktenstudium auch nach Hause verlegt werden kann. „Meine Frau bestand brutal darauf, dass ich meinen hälftigen Anteil im Haushalt und bei der Erziehung unserer zwei Töchter leiste.“
Wurde er so zum Vorkämpfer der Familien? Eher indirekt. Denn Borchert nutzte die neue berufliche Flexibilität nicht zuletzt – typisch Mann –, um seine wissenschaftliche Tätigkeit wieder aufzunehmen. Dabei entwickelte er auch einen intensiven Kontakt zu Oswald von Nell-Breuning, dem Nestor der katholischen Soziallehre. Der alte Sozioökonom machte den jungen Juristen zu seinem Schüler und „politischen Testamentsvollstrecker“.
„Der Schlüssel zur Altersversorgung jeder Generation liegt in der biologischen Struktur des Völkskörpers.“ Diesen Satz Nell-Breunings zitiert Borchert immer wieder. Wohl wissend, dass die anachronistische Wortwahl seine Zuhörer eher verunsichert, inszeniert er das Zitat jedes Mal wie einen kleinen Tabubruch: „Man wagt es ja kaum zu sagen“, sagt er, bevor er es ausspricht.
Zwar ist sich der linke Richter mit Konservativen durchaus einig: Die Deutschen bekommen zu wenige Kinder. Nur sieht Borchert das nicht als Kern des Problems, sondern eben nur als Symptom der Familienfeindlichkeit in der Gesellschaft. „Wenn sich da was ändert, steigen auch die Geburten wieder, wie von selbst“, glaubt Borchert. Die Emanzipation der Frau will er auf keinen Fall zurückdrehen. „Meine Frau hat ja auch immer gearbeitet.“ Bei seinem Bündnispartnern, in den Familienverbänden, sieht man das teilweise etwas anders. Schon deshalb hält Borchert gerne Abstand.
Der gebürtige Westfale ist ein intellektueller Einzelkämpfer. So sitzt er häufig auf der sonnigen Dachterrasse seines Hauses in Heidelberg, umgeben von Sonnenkollektoren und tibetischen Gebetstüchern, die seine Tochter von Reisen mitgebracht hat. Dort schreibt er Aufsätze, Positionspapiere, Diskussionsbeiträge. Inzwischen laden ihn alle Parteien – von der CSU bis zu den Grünen – zu ihren Anhörungen ein.
Es ist gerade seine Unabhängigkeit, die ihn als Gesprächspartner so interessant macht. Borchert ist in keine Fraktions- oder Verbandsdisziplin eingebunden und will auch keine Karriere machen. Seit 1986 ist er Richter am Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt und macht diese Arbeit gerne. „Ich habe keinen formellen Ehrgeiz mehr“, sagt Borchert über sich, nur noch „Gestaltungswillen“.
Vor allem die großen Summen faszinieren ihn: „350 Milliarden Mark pro Jahr Einkommens- und Körperschaftssteuer, 250 Milliarden Umsatzsteuer, 700 Milliarden Sozialversicherung“ – und Jürgen Borchert sieht sich immer mit am Hebel. Dabei kann er auch als Einzelner erstaunlich viel bewegen, da es in diesen Bereichen wenige politisch denkende Fachleute gibt. Jürgen Borchert hat seine Nische gefunden und gilt inzwischen auch jenseits von Familienfragen als Rentenexperte.
Respekt hat er sich aber nicht zuletzt durch die von ihm initiierten und wissenschaftlich begleiteten Verfassungsbeschwerden von Müttern und Familien verschafft. So erwirkte er 1992 das Karlsruher Trümmerfrauen-Urteil. Darin forderte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber auf, künftig Erziehungszeiten bei der Rentenberechnung „in weiterem Umfang als bisher“ zu berücksichtigen. Heute nun geht es in Karlsruhe um die Pflegeversicherung, gegen die sechs Verfassungsbeschwerden vorliegen. Die Versicherung sei familienfeindlich, weil bei der Berechnung der Beitragshöhe die Kinderzahl keine Rolle spiele.Und dann ist da auch noch die Klage einer achtköpfigen Familie gegen die Ökosteuer. Hier versuchte Borchert zu belegen, dass das rot-grüne Vorzeigeprojekt wie auch andere indirekte Steuern eine mehrköpfige Familie stärker belastet als Kinderlose.
Erfolgreich ist die Ein-Mann-Lobby vor allem deshalb, weil Jürgen Borchert in vielen Rollen sattelfest ist. So agiert er vor dem Bundesverfassungsgericht als nüchterner Experte, der sachlich und leidenschaftslos argumentiert. Bei Parteien und Gewerkschaften zeigt er sich dagegen als gewiefter Taktiker und Stratege. Und für die Medien beherrscht er die Kunst der Zuspitzung, wie er zuletzt mit Gastbeiträgen in Stern und Focus zeigte. So stehen die Familien bei Borchert immer „am Rande der Sozialhilfe“. Er sieht sie auch dann „deklassiert“, wenn es ihnen besser geht als zuvor, so wie es infolge der Steuerreform der Fall ist. Denn entscheidend sei, so argumentiert Borchert, dass die Menschen ohne Kinder in derselben Zeit noch mehr profitiert hätten.
Es fällt auf: Wenn Borchert über Kinder spricht, dann benutzt er ökonomische und juristische Vokabeln, dann ist immer nur von „Lasten“ und der damit verbundenen „Dienstleistung“ für die Gesellschaft die Rede. Dabei bekommen Eltern ihre Kinder doch eher aus Freude am Familienleben und nicht aus gesellschaftlichem Verantwortungsgefühl.
Oder war das bei Jürgen Borchert anders?
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