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Kinderkriegen lohnt sich wieder

Verfassungsgericht betont Wert „nachwachsender Generationen“ für die Sozialversicherung. Bedeutung hat das Urteil wohl vor allem für die Rente

aus Karlsruhe CHRISTIAN RATH

Über diese Entscheidung wird noch viel gesprochen werden. Zum einen hat der gestrige Spruch des Bundesverfassungsgerichts grundsätzliche Bedeutung, denn er wertet Familien auf und betont ihren Beitrag für die Zukunft der Sozialversicherung. Andererseits sind aber die Vorgaben des Gerichts auch recht vage, sodass nun in Berlin langwierige Diskussionen über die Konsequenzen zu erwarten sind. Erhebliche finanzielle Auswirkungen wird das Urteil vor allem bei den Rentenbeiträgen haben – auch wenn aus prozessualen Gründen die Pflegeversicherung im Mittelpunkt der Entscheidung stand.

Wer pflegt die Kinderlosen?

Geklagt hatte ein Kirchenmusiker, der gemeinsam mit seiner Frau zehn Kinder erzieht. Er wollte von der Beitragspflicht für die 1994 neu eingeführte Pflegeversicherung völlig befreit werden. Schließlich würden seine Kinder über ihre Beiträge in Zukunft auch die Pflegeleistungen der Kinderlosen finanzieren. Außerdem sei zu erwarten, dass seine Kinder auch ihn persönlich pflegen, was der Pflegeversicherung Kosten erspare. Pflegebedürftige Kinderlose müssten dagegen in der Regel von teuren Sozialdiensten betreut werden.

Dieser Argumentation folgte Karlsruhe aber nur teilweise. So stellte das Gericht klar, dass kinderlose Alte nur unwesentlich mehr Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen als Menschen, die Kinder haben. Bei der stationären Unterbringung im Pflegeheim gebe es gar keinen Unterschied, und bei der ambulanten Pflege zu Hause liege der finanzielle Mehrbedarf von Kinderlosen nur bei acht Prozent. Diese geringe Differenz hatte der Ökonom Winfried Schmähl in der mündlichen Verhandlung damit erklärt, dass viele Kinderlose von ihren Ehepartnern gepflegt werden, während Kinder nicht regelmäßig die Betreuung der Eltern übernehmen. Derart geringfügige Unterschiede im Leistungsbedarf müsse die Pflegeversicherung im „solidarischen Ausgleich“ auffangen, betonten die Karlsruher Richter in ihrem Urteil.

Eine Änderung der Beitragsregelung hielt das Gericht aber deshalb für notwendig, weil die Betreuung und Erziehung „nachwachsender Generationen“ für eine Sozialversicherung im Generationenvertrag zwingend notwendig ist. Die Leistungsberechtigten von morgen könnten nur dann versorgt werden, wenn auch in Zukunft Beiträge zur Pflegeversicherung bezahlt werden. Insofern trügen Eltern derzeit also doppelt die Last der Pflegeversicherung, so der Beschluss: zum einen durch die normale Beitragszahlung, zum anderen durch ihre Erziehungsbeiträge.

Ungleichheit soll beseitigt werden

Bisher hatte die Bundesregierung stets darauf verwiesen, dass die Pflegeversicherung besonders familienfreundlich sei, weil Ehegatten und Kinder kostenlos mitversichert sind. Dadurch werde aber der „systemspezifische Vorteil“ der Kinderlosen quantitativ nicht aufgewogen, konstatierte jetzt das Verfassungsgericht. In der von Senatspräsident Hans-Jürgen Papier verlesenen Entscheidung wird klar eine Änderung des „mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbarenden“ Zustands gefordert.

Dabei hält Karlsruhe eine völlige Beitragsbefreiung von Eltern für nicht notwendig. „Der Staat muss nicht jede zusätzliche finanzielle Belastung von Familien vermeiden“, heißt es in der Entscheidung. Unzulässig sei nur die jetzige Beitragsgleichheit von Eltern und Kinderlosen. Um welchen Prozentsatz nun die Beiträge von Eltern reduziert und diejenigen der Kinderlosen erhöht werden müssen, ließ das Gericht völlig offen. Beim Familienlastenausgleich habe der Gesetzgeber „grundsätzlich Gestaltunsfreiheit“. Klar ist nur die Frist: Der Bundestag muss eine Neuregelung bis zum Jahresende 2004 treffen. Denkbar ist auch, dass Eltern – wie bei der Einkommenssteuer – für jedes Kind Freibeträge erhalten, in deren Umfang der Lohn beitragsfrei bleibt.

Die Brisanz der Entscheidung ergibt sich natürlich nicht so sehr im Bereich der Pflegeversicherung. Dort liegt der monatliche Höchstbeitrag bei rund 110 Mark. Auch bei einer wesentlichen Änderung der Beitragsstruktur dürften Familien dies nicht allzu sehr spüren. Viel relevanter sind die Auswirkungen des Urteils auf die Rentenversicherung. Das Verfassungsgericht hat dem Gesetzgeber nämlich ausdrücklich aufgegeben, die Folgen „auch für andere Zweige der Sozialversicherung“ zu prüfen und damit auch die lange Umsetzungsfrist bis 2004 begründet.

Die jetzigen Babyjahr-Regelungen bei der Rente dürften dabei wohl kaum den Verzicht auf eine Neuregelung rechtfertigen. Derzeit bekommen Frauen, die in Rente gehen, pro Kind ein Jahr in der Rentenversicherung gutgeschrieben. Für Kinder, die nach 1992 geboren wurden, sind es immerhin drei Jahre. Konkreten Nutzen haben erziehende Mütter (und Väter) damit aber erst, lange nachdem die Kinder aus dem Haus sind. In der gestrigen Entscheidung betonte Karlsruhe dagegen, dass den Eltern eine Entlastung „in der Zeit zugute kommen muss, in der sie Kinder betreuen und erziehen“. Gestaffelte Beitragssätze in der Rentenversicherung wird der Gesetzgeber also wohl kaum vermeiden können. Angesichts der unklaren Vorgaben wird es in vier Jahren aber sicher neue Verfassungsbeschwerden geben, die dann die Details der Neuregelung bei Rente und Pflegeversicherung auf den Prüfstand stellen.

Für die private Pflegeversicherung, in der immerhin 13 Prozent der Erwerbstätigen erfasst sind, wird die neue Familienkomponente übrigens nicht gelten. Da hier das Kapital derzeit noch angespart wird, kommt es auf ein Nachwachsen neuer Generationen gar nicht an.

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