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Ein Fingerabdruck und eine Zeugin

Der mehrjährige Mordprozess gegen die vietnamesische Bande „Ngoc Thien“ steht kurz vor dem Abschluss. Die Anklage stützt sich in entscheidenden Teilen auf die Aussage einer umstrittenen Kronzeugin, die anfangs selbst zu den Verdächtigen zählte

von MARINA MAI

Von ihrer türkischen Mitgefangenen war sie als „Mafiafrau“ beschimpft worden, erzählt Xuyen auf dem Zeugenstuhl des Berliner Landgerichtes. Auch die Justizbediensteten hatten sie so behandelt: Mehrere Wochen lang saß die attraktive 33-jährige Vietnamesin Mitte 1996 in Untersuchungshaft. Sie durfte weder Kontakt zu Landsleuten haben noch am gemeinsamen Hofgang teilnehmen. Täglich war sie durch die Polizei vernommen worden. Doch reden wollte sie zunächst nicht. „Aus Angst vor der Rache meiner Peiniger“, wie Xuyen später aussagte.

Ihre Peiniger, das waren die Männer, die seit Januar 1998 fast jeden Mittwoch und jeden Freitag auf der Anklagebank des Landgerichtes sitzen. Sie sollen die Führungsköpfe der vietnamesischen „Ngoc-Thien-Bande“ sein. Die soll bis zu ihrer Zerschlagung Mitte 1996 die größte derartige Gruppierung gewesen sein und zwei Drittel der illegalen vietnamesischen Zigarettenhändler im Berliner Raum um Schutzgelder erpresst haben (siehe Kasten). Vierzig Morde wurden bis 1996 im Kampf um die Vormachtstellung in diesem Geschäft begangen. Acht davon werden den Angeklagten zur Last gelegt – darunter auch ein Sechsfachmord in einem Marzahner Hochhaus im Mai 1996.

Die Angeklagten im Alter zwischen 19 und 47 Jahren müssen sich aber auch wegen einer Entführung, illegalem Waffenbesitz und der Bildung einer kriminellen Vereinigung verantworten. Nach mehr als drei Jahren steht der Prozess nun kurz vor seinem Ende. Morgen will die Staatsanwaltschaft plädieren.

Angangs zählten die Ermittler auch Xuyen zu den Verdächtigen. Denn als die Polizei 1996 eine Wohnung der Ngoc-Thien-Bande stürmte, hatte sie dort Xuyen mit anderen Bandenmitgliedern angetroffen. Zuvor hatte sich die Frau eines Entführungsopfers an die Polizei gewandt. Für die Freilassung ihres Mannes soll die Bande im Juli 1996 200.000 Mark von ihr erpresst haben. Die Polizei befreite den Mann aus der Wohnung und nahm die übrigen Anwesenden, darunter auch Xuyen, in Untersuchungshaft.

Angst vor der Aussage

Man hätte eine Stecknadel hören können im überfüllten Saal 700 des Landgerichtes, als Xuyen später erzählte, wie sie sich nach mehreren Wochen Haft entschlossen hatte, ihr Wissen der Polizei preiszugeben. Und wie aus einer Mitverdächtigen ein Opfer und somit die Kronzeugin der Staatsanwaltschaft wurde.

„In meiner Zelle habe ich mich nach jedem Polizeiverhör selbst beschimpft: Warum habe ich nicht ausgesagt? Ich hätte helfen können, die Leute zu überführen, die ich fürchte“, erzählte Xuyen. Doch da war die Angst, nach ihrer Freilassung ermordet zu werden. Ohne Aussage aber, darüber wurde sich Xuyen in der Haft klar, galt sie der Polizei als Mafiamitglied und hätte selbst mit einer langjährigen Haftstrafe rechnen müssen.

Mit ihrem Freund und dessen Bruder war Xuyen im April 1996 bei den Mafialeuten zum Abendbrot eingeladen worden, erzählte sie im Gerichtssaal. Statt des Abendbrotes warteten aber die Gastgeber mit drei Pistolen auf die Gäste. Xuyens Freund und sein Bruder wurden erschossen. Sie selbst musste fortan in der Wohnung als Hausmädchen ihren Dienst tun.

Nach ihrer Aussage gegenüber der Polizei wurde Xuyen freigelassen. Von da an genoss sie vor Gericht den Status einer Kronzeugin und wurde durch ein Zeugenschutzprogramm von ihrer Umgebung abgeschirmt. Wo und unter welcher Identität sie heute lebt, darüber schweigt sich die Staatsanwaltschaft aus.

Für die Ankläger ist die Kronzeugin ein Glücksfall. Denn es gibt nur wenige objektive Beweismittel in diesem Strafverfahren, das als eines der umfangreichsten in der deutschen Nachkriegsgeschichte gilt. Zwar haben zwei der Angeklagten zwei Morde gestanden. Bei dem Sechsfachmord hat aber lediglich der Hauptangeklagte Le Duo Bao, nach dessen Spitznamen Ngoc Thien („Der Barmherzige“) die Bande ihren Namen hat, einen Fingerabdruck auf einer Handschelle hinterlassen, mit der die Opfer vor ihrer Erschießung gefesselt worden waren.

Das Verfahren wegen eines neunten Mordes, der den Männern auch zur Last gelegt worden war, musste mangels Beweisen eingestellt werden. Auch wegen ihres eigentlichen „Geschäftes“, der Schutzgelderpressung, werden die Männer nicht belangt. Hierfür fehlen konkrete Anhaltspunkte.

Bei allen anderen Punkten ist die Anklage mehr oder weniger auf die Berichte der jungen Xuyen angewiesen. Nach dem Sechsfachmord, sagte sie im Gerichtssaal aus, hätten die Männer sich in der Wohnung ihr gegenüber der Tat gerühmt. Einem der Männer habe sie nach der Tat die blutigen Jeans auswaschen müssen. Ein anderer habe sich übergeben, und sie habe die gelbe Masse aufwischen müssen, die ihm aus dem Mund gelaufen war.

Xuyens Aussagen haben schon dazu geführt, neun der ehemals sechzehn Angeklagten zu verurteilen. Wegen illegalem Waffenbesitz, Bildung einer kriminellen Vereinigung, erpresserischem Menschenraub und Verstoß gegen das Waffengesetz erhielten acht Männer und eine Frau Haftstrafen zwischen drei und siebeneinhalb Jahren. Gegen einen jugendlichen, minder schwer Angeklagten wurde das Verfahren nach fast zweijähriger Untersuchungshaft eingestellt. Die fünf Männer, gegen die das Urteil in den nächsten Tagen ergehen wird, haben laut Anklageschrift Morde auf dem Kerbholz.

Regie der Verteidigung

Zu Beginn schien es, als hätte das Gericht alle Zeit der Welt für dieses Strafverfahren. Der Vorsitzende Richter Ralf Körner ging vorsichtig zu Werke, nachdem ein erstes Verfahren im Sommer 1997 abgebrochen werden musste. Ein Tuberkulosevirus hatte sich in den Hochsicherheitstrakt eingeschlichen und einen Angeklagten verhandlungsunfähig gemacht. Um eine Ansteckung der Verfahrensbeteiligten auszuschließen, musste die Inkubationszeit abgewartet werden.

Nach dem Neustart des Prozesses im Januar 1998 führte weniger der Richter als die Verteidigung Regie im Gerichtssaal. Den Vietnamesen war es gelungen, eine Crew namhafter Anwälte aufzubieten. Darunter waren etwa Stefan König, als Verteidiger des Stasi-Chefs Erich Mielke bekannt geworden, oder Ulrike Zecher vom Vorstand der Berliner Strafverteidigervereinigung. So wurden statt der Tatvorwürfe philologische Fragen der Übersetzung aus dem Vietnamesischen erörtert und der Einlassdienst des Landgerichtes gerügt.

Auch die Haftsituation, die Verteidiger Frank Sommer „Stammheim-Bedingungen unter den Berliner Möglichkeiten“ nannte, wurde immer wieder gerügt. Durch sie hätten mehrere Angeklagte schwere gesundheitliche Schäden davongetragen, die zu einer nur eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit führten. Mehrmals musste eine Verhandlung abgebrochen werden, weil ein Angeklagter im Gerichtssaal das Bewusstsein verloren hatte oder eingeschlafen war.

Nach dem jahrelangen Prozess müssen die Angeklagten nun mit langen Haftstrafen rechnen. Die Bildung einer kriminellen Vereinigung, der schwere Menschenraub und der illegale Waffenbesitz dürften als erwiesen gelten. Gegen die zwei Männer, die die Morde an den Bekannten der Zeugin Xuyen gestanden haben, dürften wohl lebenslängliche Haftstrafen ergehen. Unklar ist aber noch, ob der Sechsfachmord und die Freiheitsberaubung an der Zeugin geahndet werden. Das hängt davon ab, ob das Gericht die Kronzeugin für glaubwürdig hält.

Zumindest die Verteidigung zweifelt daran. „Zu Beginn ihrer angeblichen Gefangenschaft wurde Frau Xuyen von der Polizei observiert“, führt Verteidiger Olaf Franke aus. Das Observierungsprotokoll habe ergeben, „dass sie munter draußen herumgelaufen ist und sogar einen Abstecher nach Bernau gemacht hat.“

Zweifel an der Zeugin

Nach der Vermutung einiger Angeklagter hat Xuyen ihre Entführung selbst inszeniert, um sich damit in der Bandenhierarchie hochzuarbeiten. Sie sei zudem deshalb unglaubwürdig, weil sie nicht nur als Zigarettenverkäuferin gearbeitet hatte, wie sie behauptete, sondern selbst Schutzgelder erpresst hätte.

Um dies zu beweisen, wurde auf Antrag der Verteidigung eigens eine vermutete Freundin von Xuyen aus Vietnam wieder eingeflogen. Sie sollte dem Gericht die Inszenierung der Entführung bestätigen. Denn mit dieser Freudin, die jahrelang in Berlin gelebt hatte, so die Verteidigung, habe Xuyen zuvor ihre Pläne besprochen. Doch die Zeugin machte vor Gericht keine Aussage. Sie gab an, weder Xuyen noch einen der Angeklagten überhaupt gekannt zu haben. Das glaubte ihr zwar schon deshalb niemand, weil sie laut Gerichtsprotokoll zu Prozessbeginn im Zuschauerraum saß. Aber die Sichtweise der Verteidigung konnte ebenfalls nicht untermauert werden.

Auch Xuyens Anwältin Petra Schlagenhauf weist die „Theorien“ der Verteidigung zurück: „Meine Mandantin hat vor Gericht ausführlich, detailliert und glaubhaft von ihrem drei Monate währenden Märtyrium berichtet.“

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