piwik no script img

Die Liebe ist ein seltsames Spiel

Wie aus versuchtem Totschlag Freispruch wurde: Die Liebe zwischen einem 36-jährigen Rollstuhlfahrer und seiner zwanzig Jahre älteren Freundin

„Es handelt sich um einen typischen Partnerschaftskonflikt mit Eigendynamik“

von BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Was sich neckt, das liebt sich, heißt es im Volksmund. Gestern ging vor dem Landgericht ein Prozess zu Ende, bei dem es um eine verschärfte Version dieser Redewendung ging. Angeklagt wegen versuchten Totschlags war Mustafa G., ein 36-jähriger Mann mit Vollbart und kräftiger Statur, der infolge von Kinderlähmung im Rollstuhl sitzt.

Angezeigt hatte ihn seine Freundin, die zwanzig Jahre ältere Polin Aurelia M.. Seit neun Jahren lieben und streiten sich die beiden. Nach M.s Aussage bei der Polizei soll Mustafa G., der in Anatolien zur Welt kam, seit seinem dritten Lebensjahr an Kinderlähmung leidet und von seiner Mutter im Alter von sechs Jahren nach Deutschland geholt wurde, am 11. Juni vergangenen Jahres versucht haben, sie vom Balkon im fünften Stock seiner Wohnung in der Böcklerstraße in Kreuzberg zu stürzen.

Nachdem sie sich am Nachmittag zusammen im Fernsehen das Fußballspiel Türkei gegen Italien angesehen hatten – er als Anhänger der türkischen und sie der italienischen Mannschaft –, soll Mustafa G. sauer über das 2:1 für Italien gewesen sein und sie mit dem Rollstuhl gegen die Balkonbrüstung gedrückt haben. Dort soll er erst mit einem kleinen Balkontisch und dann mit einem festen Griff an den Hals versucht haben, die rothaarige Frau in die Tiefe zu stürzen. „Ich bring dich um“, soll er gedroht haben. Als Aurelia M. laut schrie, weil sie Todesängste litt, riefen zwei Nachbarn die Polizei. Mustafa G. wurde vorläufig festgenommen und kam in Untersuchungshaft.

Doch zehn Monate nach der Tat hat sich dieser Vorwurf in Luft aufgelöst. Am Montag erklärte die Geschädigte, die damals Prellungen, Schürfungen und Kratzer davontrug, dem verblüfften Gericht, dass sie über den Vorfall nicht mehr reden will. „Ich bin seit vier Monaten mit Mustafa verlobt und Ende des Jahres wollen wir heiraten.“ Zum Beweis präsentierte sie ihren Verlobungsring und machte im Anschluss von ihrem Schweigerecht Gebrauch. Auf die Frage, warum sie sich nach so einem Vorfall verlobe, antwortete sie: „Wir haben über das Geschehen geredet und festgestellt, dass es keine Bedeutung hat.“ Auch Zeugen, die damals die Polizei alarmiert und Mustafa G. belastet hatten, nahmen von ihren Aussagen Abstand.

So blieb nur die Version des Angeklagten. Dieser hatte ausgesagt, dass seine zwanzig Jahre ältere Freundin „sehr eifersüchtig“ und bisweilen hysterisch sei und am Vortag einen Streit vom Zaun gebrochen habe. Sie habe ihn verdächtigt, heimlich einen Pornofilm zu gucken. „Wenn du dafür Geld ausgibst, kannst du mir auch etwas Neues zum Anziehen kaufen“, soll sie zu ihm gesagt haben. Am nächsten Tag habe sie ihm „eine kalte Suppe“ ins Gesicht gekippt und gedroht, vom Balkon zu springen. Geschlagen habe er sie nicht, er habe sie nur beruhigen wollen.

Ein Arzt für Neurologie und Psychiatrie, der gestern als Sachverständiger gehört wurde, erklärte, dass die Beziehung zwischen Mustafa G. und Aurelia M. „etwas problematisch“ sei und „Spannungen nur an der Oberfläche abgearbeitet“ würden. Bei der Auseinandersetzung im Juni handele es sich um einen „typischen Partnerschaftskonflikt mit Eigendynamik“. Es sei jedoch auf beiden Seiten die Mühe zu bemerken, „den Partner zu erhalten“. Über „Interessen, die dahinter stehen“, wollte er sich nicht äußern. Dem Angeklagten attestierte er, dass er trotz seiner Behinderung, die sein Leben bestimme, „friedlich mit der Welt umgeht“. Eine Nervenärztin, die Mustafa G. wegen Kreuzschmerzen aufsucht, habe zwar eine „leichte psychische Gereiztheit“ festgestellt. Doch nur in Paniksituationen zeige er eine „gewisse Angstbereitschaft“. Das Fazit des Gutachters: Der Prozess könne „eine gewisse erzieherische Wirkung“ haben und nur „mit geringer Wahrscheinlichkeit“ sei anzunehmen, dass sich dergleichen wiederhole.

Gestern bekam Mustafa G. nicht nur seinen deutschen Pass zurück, den er abgeben musste, als er von der Untersuchungshaft verschont wurde. Er bekam auch vom Gericht, das nicht klären konnte, was an dem 11. Juni tatsächlich passiert ist, eine Chance. Der Richter schloss sich dem von Staatsanwaltschaft und Verteidigung geforderten Freispruch an. Mustafa G.s Anwältin merkte weise an: „Wir müssen es den Menschen selbst überlassen, wie sie leben wollen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen