: Schummeln nach Zahlen
Schröder und Merz sind sich einig: Viele Arbeitslose sind faul. Während der Kanzler ganz auf Argumente verzichtet, liefert die CDU zehn Seiten Thesen. Aber mit falscher Statistik
Es ist wie früher beim Squash, als die Sportart neu war. Alle, die modern sein wollten, droschen auf den Ball ein. Wenn sie ihn überhaupt erwischten. Denn das stellte sich bald als das irritierende Hauptproblem für die Anfänger heraus: Garantiert kam der Ball von dort herbeigeflogen, wo man ihn gerade nicht erwartete.
So kann man sich jetzt wieder fühlen – diesmal bei der Debatte um die deutschen Faulenzer. Die Flugbahn der Diskursbälle erscheint mitunter merkwürdig unberechenbar. Neuester Querschlag war die Diagnose des Kanzlers vom Dienstag, dass nur die Westdeutschen arbeitsscheu seien, die Ostdeutschen aber nicht. Damit hat er uns wirklich ausgetrickst, die immer noch über den Angriff von vor vier Wochen staunen, als Gerhard Schröder eine gesamtdeutsche Faulheit bei den Erwerbslosen ausmachte.
Doch auch wenn der Kanzler mit einer Härte zuschlägt, die auf jeden Fall an Squash erinnert – er wirkt in der Defensive, getrieben von der Union. Auch sie überraschte jüngst durch drastische Manöver. So forderte etwa Friedrich Merz, dass die „Stütze“ radikal zu kürzen sei: Wer arbeiten kann, aber weder Beschäftigung noch Ausbildung findet, der solle nur noch Lebensmittelbons und Sachleistungen erhalten. Das klingt so brutal, wie es gemeint ist. Aber natürlich bestraft der CDU-Fraktionsvorsitzende nicht grundlos. Nein, er hat festgestellt, „dass genug Arbeit da ist für die, die arbeiten können und wollen“.
Damit scheint er wie Schröder die Faulenzer-Vorhand zu spielen. Aber anders als der Kanzler, der sich nur vage in Interviews ergeht, hat die CDU immerhin ein zehnseitiges Papier mit 15 Thesen erstellt, das sich auch vor Zahlen nicht scheut. So seien 1,6 Millionen Stellen unbesetzt; die Hälfte davon eigne sich auch für ungelernte Kräfte. Und, Skandal, „ein Weiteres kommt hinzu: Im Jahr 2000 wurden fast 1,1 Millionen Arbeitserlaubnisse für ausländische Arbeitnehmer erteilt, von denen die Mehrzahl deshalb erteilt wurde, weil sich kein deutscher Arbeitnehmer für die jeweilige Beschäftigung fand.“ Daraus kann nur folgen: „Angesichts der Zahlen ist klar, dass grundsätzlich jedem Hilfeempfänger ein Arbeitsangebot gemacht werden kann.“
Die Quelle klingt zunächst seriös: „Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit“, verlautet die CDU-Presseerklärung lapidar. Trotzdem erstaunen die Zahlen, weist doch genau diese Bundesanstalt auf ihrer Homepage für März nur 577.822 offene Stellen aus (www.arbeitsamt.de). Wie kann die CDU dann ein Millionenreservoir von Jobs ermitteln, die sich angeblich umgehend besetzen ließen, wenn die Empfänger von Sozial- und Arbeitslosenhilfe nur mal endlich ein bisschen guten Willen zeigen würden?
Wer die zweite These des 10-Seiten-Werkes liest, stößt auf eine interessante Rechenoperation: „Die Bundesanstalt geht nach ihren Erfahrungen davon aus, dass etwa nur ein Drittel aller unbesetzten Stellen bei den Arbeitsämtern gemeldet werden. Dies wiederum würde bedeuten, dass im März 2001 insgesamt in Deutschland rund 1,6 Millionen Stellen unbesetzt waren.“ Nun hat es allerdings einen guten Grund, dass die Bundesanstalt mit dieser Zahl nicht öffentlich agiert: Sie weiß über diese Jobs eigentlich nichts – eben weil sie nicht gemeldet sind. Genau deswegen hat ihr Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im letzten Jahr eine repräsentative Stichprobe erhoben (www.iab.de).
Das Ergebnis ist niederschmetternd für die CDU, die sich anscheinend jede Recherche gespart hat, bevor sie schwungvoll ihre Thesen verfasste. Bei den ungemeldeten Stellen sind gerade nicht, wie von der Union behauptet, die Hälfte auch für ungelernte Kräfte geeignet – sondern nur 23 Prozent im Westen und ganze 18 Prozent im Osten.
Diese niedrige Quote ist auch für den Alltagsverstand durchaus nahe liegend: Würden die Arbeitgeber ausgerechnet Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger für ihre Wunschkandidaten halten, dann wären die ungemeldeten Stellen nicht mehr lange ungemeldet. Denn die Firmenchefs würden sich umgehend an die Arbeitsämter wenden – schließlich sind sie, und fast nur sie, auf diese Klientel spezialisiert.
Noch absurder ist die CDU-Rechnung allerdings bei den 1,1 Millionen Arbeitserlaubnissen, die im letzten Jahr an Ausländer erteilt wurden. Nicht nur stößt unappetitlich auf, dass ein doppeltes Feindbild konstruiert wird: Geldgierige Fremde schnappen schlaffen Deutschen die Arbeit weg. Vor allem wird von der Union unterstellt, dass es sich um 1,1 Millionen Vollzeitjobs handele. Dies ist jedoch keineswegs so: Fast alle Arbeitserlaubnisse werden befristet ausgestellt, etwa für wenige Wochen Spargelernte in Brandenburg. Niemand – und schon gar nicht die Bundesanstalt für Arbeit – weiß, ob und wie sich diese Zeitjobs in reguläre Beschäftigungsverhältnisse umrechnen ließen. Zudem sind 300.000 dieser Jobber aus dem Ausland so genannte Werkvertragsarbeitnehmer: Sie kommen im Kontingent, meist aus Osteuropa, um hier befristete (Bau-)Aufträge zu erledigen. Kleine Quizfrage: Wer hat wohl das internationale Vertragswerk abgeschlossen, das dies ermöglicht und fördert? Genau, die Regierung Helmut Kohl.
Schröder und Merz verhalten sich so, wie es mancher Squash-anfänger früher auch versuchte, wenn er den Ball mal wieder nicht getroffen hatte: Sie fangen an, über die Spielregeln zu debattieren, hoffen vergeblich, dass es doch möglich sein müsse, die Arbeitslosigkeit wegzudiskutieren.
Offensichtlich brauchen sie dringend einen Schiedsrichter: Und das kann nur die Bundesanstalt für Arbeit sein, die einmal jährlich aufwändig eine Strukturanalyse der deutschen Arbeitslosigkeit erstellt. Diesen Angaben sollte eigentlich gerade Friedrich Merz vertrauen, wurde doch ihr Präsident Bernhard Jagoda 1993 zu Kohls Zeiten berufen (davor war er Staatssekretär von Blüm).
Die Zahlen seiner Bundesanstalt wirken deutlich genug: Für das Jahr 2000 ergab sich, dass im Durchschnitt 3.684.760 Menschen arbeitslos waren, gleichzeitig waren 526.037 offene Stellen gemeldet. Das heißt: Selbst im günstigsten Fall, selbst wenn die angebotenen und geforderten Qualifikationen genau zueinander passen würden, hätten nur 14,26 Prozent aller Arbeitslosen die Chance auf einen Job.
Damit scheint die Debatte um die „Faulheit“ obsolet. Denn der Sinn dieses Begriffes trägt es in sich, dass eigentlich die Arbeit ruft. Dass es also eine Wahl gibt. Aber genau diese Alternative zwischen Schnarchen und Schaffen fehlt für die aktuell knapp vier Millionen Arbeitslosen. Und so ist logisch konsequent, was Jagoda empirisch feststellt: Die Zahl der Drückeberger sei „eher gering“.
Übrigens ist Squash bald wieder aus der Mode gekommen – offenbar hatten manche einfach keine Lust mehr, noch weiter am lästigen Schlagabtausch teilzunehmen. Einige von ihnen rollen gerade friedlich als Inline-Skater durch die Gegend.
ULRIKE HERRMANN
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