: Ein Hungerstreik ohne Rückhalt
von JÜRGEN GOTTSCHLICH und RALF SOTSCHECK
Heute vor 20 Jahren starb Bobby Sands. Das IRA-Mitglied Sands war nicht nur in Irland und Großbritannien, sondern weltweit ein Begriff. Vor 10 Tagen starb Hatice Yurekli. Wer ist Hatice Yurekli?
Der IRA-Mann hatte sich im Knast von Long Kesh zu Tode gehungert, aus Protest gegen die Knastbedingungen und als ein Mittel im Kampf gegen die britische Regierung. Die 33-jährige türkische Kommunistin starb ebenfalls an den Folgen ihres Hungerstreiks im Gefängnis, doch selbst in der Türkei kennt kaum jemand ihren Namen. An dem Hungerstreik der Irisch-Republikanischen Armee vor 20 Jahren, bei dem insgesamt 10 Gefangene starben, nahm die Welt regen Anteil. In vielen europäischen Großstädten kam es zu großen Demonstrationen. Der US-Generalstaatsanwalt Ramsey Clark und der pazifistische Expriester Daniel Berrigan sprachen sich für Verhandlungen mit den Hungerstreikenden aus. In Teheran benannte man gar die Straße, in der die britische Botschaft liegt, offiziell in Bobby-Sands-Straße um.
In den türkischen Gefängnissen sind mittlerweile 16 Gefangene verhungert, 4 weitere Menschen, die außerhalb der Gefängnisse aus Solidarität mithungerten, sind ebenfalls tot. Jeden Tag können weitere Gefangene sterben, aber trotzdem bleibt die öffentliche internationale Reaktion sehr verhalten. Zwar hat der Europarat seine Anti-Folter-Kommission in die Türkei geschickt und Daniel Cohn-Bendit hat als Vorsitzender der gemischten Kommission des europäischen und türkischen Parlaments die Regierung dringend aufgefordert, mit den Hungerstreikenden zu verhandeln, doch das war’s dann auch. Die Solidaritätskomitees erreichen über ihre eigene enge Szene hinaus kaum jemanden. Obwohl die türkische Regierung heute anders als die britische Regierungschefin Margaret Thatcher vor 20 Jahren auf massiven internationalen Druck viel eher reagieren würde, äußern EU-Regierungen sich offiziell überhaupt nicht und hinter vorgehaltener Hand eher verständnisvoll gegenüber Ankara. Warum ist das so?
Ähnliche politische Ziele
Eine erste Antwort können die Ziele der Hungerstreikenden geben. Die Gefangenen aus IRA und INLA stellten fünf Forderungen: Sie wollten ihre eigene Kleidung tragen, keine Zwangsarbeit leisten, ihre Freizeit selbst organisieren und einen Brief, ein Paket und einen Besuch pro Woche erhalten dürfen. Entscheidend aber war: Bis 1976 waren die Gefangenen sowohl der katholischen als auch der protestantischen Untergrundorganisationen als politische Gefangene anerkannt.
Dann begann die britische Labour-Regierung eine Kriminalisierungsstrategie, mit der die Gefangenen demoralisiert werden sollten. Als erstes wurde ihnen die Kleidung weggenommen, sie sollten Uniformen tragen. Weil sie das ablehnten, blieb ihnen nichts als eine Decke, in die sie sich einhüllen konnten, der „Deckenstreik“ war geboren. Der „Dreckstreik“ kam hinzu. Weil die Wärter die Kübel auf die Matrazen der Gefangenen ausleerten, begannen diese ihre Exkremente an die Wände zu schmieren und den Urin unter der Zellentür hindurch zu gießen. Im Mai 1979 kamen die Tories mit Margaret Thatcher an die Macht. An der Nordirland-Politik änderte sich nichts. Am 27. Oktober 1980 begannen 7 IRA-Männer einen Hungerstreik, den sie als letzte Chance sahen, da viele Gefangene aufgrund des Decken- und Dreckstreiks vor dem psychischen und physischen Zusammenbruch standen.
In der Türkei geht es formal um eine durchaus vergleichbare Auseinandersetzung. Bislang waren die Angehörigen von linken Organisationen im Knast in Großgruppen von bis zu 100 Leuten zusammengelegt worden. Damit avancierten die Knäste, wie im Falle der IRA auch, zu Kaderschulen der Organisationen. Die Gefangenen hatten außerdem die Möglichkeit, ihren Knastalltag weitgehend selbst zu organisieren. Seit mehr als 10 Jahren sollen die türkischen Knäste reformiert, die Großtrakte abgeschafft und ein Kleinzellensystem eingeführt werden. Was außerhalb der Gefängnisse, nicht zuletzt im Europäischen Parlament, als Fortschritt im katastrophalen türkischen Knastalltag gesehen wurde, empfinden die Gefangenen als Angriff auf ihren Zusammenhalt und den Versuch, sie durch Isolationshaft gefügig zu machen. Nachdem nun mehr als 1.000 linke politische Gefangene zwangsweise in neuen Knästen in Einzel- bis Dreierzellen untergebracht wurden, haben Anwaltskammer, amnesty international und türkische Menschenrechtsorganisationen bestätigt, dass viele Gefangene in den neuen Zellen misshandelt und schikaniert wurden. Trotzdem bleibt in großen Teilen der türkischen und internationalen Öffentlichkeit die Frage, ob es wirklich angemessen ist, für den Erhalt des alten Gefängnissystems zu Tode zu hungern.
Unterschiedliche Bedingungen
Jedes Mal, wenn einer der Hungerstreikenden IRA-Gefangenen starb, kam es in den katholischen Vierteln Nordirlands zum Aufruhr. Massen waren auf den Straßen, es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Armee. Die britischen Soldaten setzten Plastikgeschosse ein, eine „Distanzwaffe“, durch die im Laufe des Hungerstreiks 7 Menschen getötet wurden.
Der Aufruhr in den katholischen Vierteln war ein klares Signal, dass die IRA über einen starken Rückhalt an ihrer Basis verfügte, die den Hungerstreik massiv unterstützte. Auch die Reaktionen im Ausland machten deutlich, dass es der britischen Regierung nie gelungen war, die IRA als reine Terrororganisation abzustempeln, der man jedes politische Anliegen absprechen konnte. Hier liegt der entscheidende Unterschied zu den Gefangenen, die sich heute in der Türkei zu Tode hungern. Die so genannte „Revolutionäre Volkspartei“ DHKP-C, die frühere Devrimci Sol, die den Hungerstreik anführt, hat weder in der Türkei eine Massenbasis noch wird sie im Ausland als Befreiungsorganisation angesehen.
Wie in Deutschland in den 70er-Jahren die „Revolutionäre Armee Fraktion“ (RAF) für die Regierung und den größten Teil der Bevölkerung schlicht Terroristen waren, gibt es heute in der Türkei nur wenige Symphatisanten von DHKP-C und anderer linker Kleingruppen, die den Hungerstreik durchführen. Anders als in den 70er-Jahren, als sie gegründet wurden, führen sie heute eher ein Schattendasein. Da allgemein bekannt ist, dass es bei dem Hungerstreik nicht nur um humanitäre Ziele geht, sondern auch um den Zusammenhalt der Organisationen, ist die öffentliche Solidarisierung gering.
Nur aufgrund des starken Rückhalts in der Bevölkerung machte die britische Regierung schließlich Konzessionen, mit denen sie die Forderungen der Hungerstreikenden weitgehend erfüllte. William B. Shannon, ehemaliger US-Botschafter in Dublin, sagte: „Der Hungerstreik war der größte Propaganda-Coup der IRA in der letzten Dekade.“ Es war die schwerste politische Niederlage, die Thatcher in ihrer Amtszeit einstecken musste.
Der mangelnde Druck aus der Bevölkerung und das Ausbleiben massiver internationaler Proteste führt in der Türkei nun dazu, dass die türkische Regierung ihr Gefängnisprogramm gnadenlos durchsetzt und dabei auch keine humanitären Rücksichten mehr nimmt. Trotz 20 Toter und etlicher weiterer Gefangener, die bereits so geschwächt sind, dass sie jeden Tag sterben können, verweigert das Justizministerium jeden Dialog und beharrt auf seinen Bedingungen. Bei guter Führung soll Gefangenen erlaubt werden, in den neuen Gefängnissen an Gemeinschaftsprogrammen teilzunehmen, mehr nicht.
Seit wenigen Tagen werden nun hunderte von Gefangenen zwangsernährt. Trotzdem wird das gespenstische Sterben wohl weitergehen, ohne dass sich die türkische oder gar westeuropäische Öffentlichkeit weiter darüber aufregen wird. Anders als im Falle der IRA, für die der Hungerstreik letztlich politisch erfolgreich war, die Abkehr von der Waffe hin zur Wahlurne und den Einstieg in den bis heute andauernden fragilen Friedensprozess bedeutete, werden die Hungerstreikenden in der Türkei kaum noch Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung nehmen. Würde die so genannte „Wahre IRA“, die heute noch weiterbombt, jetzt in Nordirland einen Hungerstreik machen, es erginge ihr wohl wie der DHKP-C in der Türkei.
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