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Eine unaufhaltsame Karriere?

Ein 16-Jähriger, der seit vier Jahren wegen Exhibitionismus einschlägig bekannt ist, vergewaltigte jetzt eine Frau. Frauen, die von ihm belästigt wurden, werfen Jugendgerichtshilfe, Polizei und Justiz vor, die Vorfälle nicht ernst genommen zu haben

von BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA

Was in der Nacht vom 19. auf den 20. April in einem Waldgebiet auf dem ehemaligen Grenzstreifen zwischen Berlin und Potsdam passierte, war nicht unbedingt abzusehen, aber zu befürchten. Gegen 1 Uhr nachts verfolgte ein 16-Jähriger, der seit vier Jahren als Exhibitionist aktenkundig ist und zum Teil auch Gewalt gegenüber den Frauen anwandte, eine 27-jährige Frau. Die Radiomoderatorin war auf dem Weg von der S-Bahn zur Arbeit beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) auf dem ehemaligen Filmgelände in Babelsberg. Dort griff er sie von hinten an und vergewaltigte sie. Anschließend flüchtete er mit ihrer Tasche samt Geld und Papieren.

Kurze Zeit später nahm die Polizei Christian B. aus dem nahe gelegenen Westberliner Bezirk Zehlendorf fest. Die Geschädigte hatte den 16-Jährigen zweifelsfrei als Täter identifiziert. Seit seiner Festnahme befindet er sich im Jugendvollzug in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg.

Bei der Potsdamer Polizei ist Christian B. seit Jahren aktenkundig. Im Polizeibericht zu der Vergewaltigung hieß es: „Der 16-jährige ist der Polizei in Potsdam aus mehrjährigen Ermittlungen zu exhibitionistischen Handlungen bekannt.“ Christian B., der bald 17 wird, war immer in der gleichen Gegend unterwegs: einem kleinen Waldstück auf dem ehemaligen Grenzstreifen zwischen einer vor wenigen Jahren errichteteten Reihenhaussiedlung und dem Berliner Bezirk Zehlendorf – zwei Minuten von seinem Wohnort entfernt. Dort ließ er nicht „nur“ die Hosen runter und onanierte. In einigen Fällen schlug er auch Frauen oder stieß sie vom Fahrrad. Die ersten Verfahren gegen ihn, als er zwischen 12 und 14 Jahre alt war, wurden eingestellt, weil er strafunmündig war. Eine Sprecherin der Potsdamer Polizei sagte gegenüber der taz, dass die Vergewaltigung aufgrund des Alters von Christian B. zwar „außergewöhnlich“ sei. Doch exhibitionistische Straftaten seien „nicht so gravierend“, dass man „Furchtbares“ zu erwarten habe.

Das sehen acht Frauen, Unterzeichnerinnen eines Offenen Briefes, anders. Unter der Überschrift „Eine unaufhaltsame Karriere?“ wenden sich die Frauen, die von Christian B. ein oder mehrmals sexuell belästigt wurden, an die Jugendbehörde, Polizei, Justiz und an Politikerinnen. Der Grund: „Wir sind der Meinung, die kriminelle Karriere dieses schwer gestörten Jugendlichen hätte unter veränderten Vorzeichen von Polizei, Justiz und Jugendhilfebehörden sehr wohl aufgehalten werden können.“ Für viele von ihnen war es „absehbar“, dass Christian B. ohne Therapie eines Tages zum Vergewaltiger werden könnte.

Über zwanzig Anzeigen

Eine der Unterzeichnerinnen ist die 43-jährige Barbara D. Sie zeigte Christian B. 1997 zum ersten Mal an. Damals war sie mit ihren beiden Kindern auf dem Weg von der Kita nach Hause. „Er stand splitterfasernackt am Wegrand, kam ganz dicht auf mich zu, holte sich aggressiv einen runter und rief immer wieder ‚Ich will ficken, ich will ficken!‘ “ Sie habe gespürt, dass es sich „nicht um einen normalen Exhibitionisten“ handele. „Ich hatte sofort das Gefühl, dass er, wenn er nicht gebremst wird, irgendwann eine Frau vergewaltigen wird.“

Im Laufe der Jahre wurden über 20 Anzeigen gefertigt: von Bewohnerinnen der Wohnsiedlung, Studentinnen eines nahe gelegenen Wohnheimes und von Teilnehmerinnen eines Ausbildungszentrums. Aufgenommen wurden diese bei der Polizei in Potsdam. Weil Christian B. minderjährig ist, ist die Staatsanwaltschaft an seinem Wohnort zuständig. Doch offensichtlich dauerte die Weiterleitung der Anzeigen nach Berlin Monate.

Dabei ist Christian B. der Berliner Justiz nach Angaben von Justizsprecher Sascha Daue aufgrund „zahlreicher Verfahren“ wegen Exhibitionismus und auch anderer Delikte wie Diebstahl bekannt. Im August 1999 wurde Christian B. erstmals wegen exhibitionistischer Handlungen verurteilt. Für ein Jahr wurde ihm eine Betreuungshelferin zur Seite gestellt. Und er erhielt die Auflage, sich freiwillig einer Therapie zu unterziehen.

Doch ob er diese antrat, ist unklar. Nach Angaben der Mutter, einer 46-jährigen Frührentnerin, begann Christian B. erst im Sommer 2000 mit einer Therapie bei einem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Das war zu der Zeit, als die Mutter die Vorwürfe des Exhibitionismus gegenüber ihrem Sohn nicht mehr abstritt. Vorher wollte sie davon nichts wissen. Der Grund: „Es passte einfach nicht zu seinem übrigen Auftreten.“ Doch als ihr Sohn dazu gestanden habe, habe er die Therapie angefangen.

Während also die Justiz davon ausging, dass Christian B. längst eine Therapie machte, wurde er wieder straffällig. Im April 2000 stellte er sich mit heruntergelassener Hose und einer Hand am Geschlechtsteil einer 29-jährigen Radfahrerin in den Weg. Als sie auswich, schlug er ihr ins Gesicht. Dafür wurde er im Oktober verurteilt – mit der Auflage, die begonnene Therapie fortzusetzen. Auch wurde er zu 48 Stunden Freizeitarbeit verurteilt.

Die Mutter von Christian B. beschreibt ihren Sohn als „ganz normalen lebhaften Jungen“ mit großen Freundeskreis. „Bei seinen Freunden führte er das große Wort, doch bei Gefühlen war er, wie viele Jungs, sehr introvertiert.“ Zu Hause sei er „verschämt rumgelaufen, damit ihm keiner was wegguckt“. Bei dem Therapeuten glaubte sie ihn „in guten Händen“. Jetzt, nach der Vergewaltigung, sagt sie: „Die Therapie hat nichts gebracht.“ Als sie den Therapeuten, der derzeit im Urlaub ist, über die Vergewaltigung informierte, sei dieser sehr überrascht gewesen. Er habe gesagt, dass ihr Sohn „auf einem guten Weg“ gewesen sei.

Rückfall trotz Therapie

Fred Meyerhoff vom Berliner Verein „Kind im Zentrum“ (siehe Kasten), wo neben Opfern sexueller Gewalt auch jugendliche wie erwachsene Täter therapiert werden, nennt als Ursachen für Exhibitionismus oder Vergewaltigung bei Jugendlichen „ein Konglomerat an Störungen“, die oft familiäre Hintergründe und mit einer „Kopplung aus Sexualität und Gewalt“ zu tun haben. So muss nicht jeder Täter selbst missbraucht worden sei. Auch Gewalterfahrungen könnten sexualisiert werden. Je nach Störung könne es, wie bei Christian B., auch während einer Therapie zum Rückfall kommen. Denn oftmals sei die Bereitschaft, eine Therapie zu machen, gering.

Vor wenigen Tagen bekam Christian B. Besuch von seiner Mutter. „Das war die schlimmste halbe Stunde meines Lebens“, sagt die Mutter. Ihr Sohn habe ihr erzählt, dass er die ersten Tage nur die Zellenwände angestarrt und gegrübelt habe: „Was habe ich getan. Was denken die anderen?“ Anscheinend war die Therapie vor der Vergewaltigung kein großes Thema zu Hause. Erst als die Mutter ihren Sohn im Gefängnis fragte, worum es bei den Gesprächen gegangen sei, habe sie erfahren, dass der Therapeut mit ihm „nur über Allgemeines und Dinge aus dem aktuellen Leben wie Schule, Freunde und Sport“ geredet hätte.

Die Mutter erwägt jetzt, aus Zehlendorf wegzuziehen. Weil sie in Trennung von ihrem Mann lebt, habe sie das schon länger vorgehabt. Doch nachdem ihr Mann der Boulevardpresse Fotos vom gemeinsamen Sohn verkauft habe und einige Nachbarn nicht mehr grüßten, halte sie es nicht mehr aus.

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