: Leben wie auf Schienen
■ Statt freier Bewegung lernen Kinder in der Stadt vorschriftsmäßige Anpassung. Die Folgen sind fatal, sagt Bewegungstherapeut Rupert Schoch
Rupert Schoch, 47, ist therapeutischer Leiter des Hamburger „Instituts Coburger“, welches Therapien für Kinder anbietet, die unter Bewegungs- und Wahrnehmungsstörungen wie Hyperaktivität leiden. Grundlage der Arbeit ist die Psychomotorik, die, wie der Name sagt, ein unmittelbares Zusammenspiel von körperlicher Bewegungsfähigkeit und seelischem (Wohl-) -Befinden voraussetzt. Er beschäftigt sich damit, ob und wie Kinder, die in der Stadt aufwachsen, „bewegungstechnisch“ auf ihre Kosten kommen.
taz: Sind Bewegungsdefizite bei „Stadtkindern“ progammiert?
Rupert Schoch: Man muß differenzieren. Der springende Punkt ist nicht, dass Kinder sich bewegen, sondern dass sie etwas bewegen. Aber die Stadt ist leer geräumt von Gegenständen und Materialien, die man bewegen kann.
Warum ist das so wichtig?
Weil Kinder am Objekt lernen, wie sich was bewegt. Bevor Kinder sich selbst drehen, versuchen sie Dinge zu drehen, bevor sie aufstehen und umfallen, bauen sie Türmchen, die umfallen. Meine Kritik richtet sich deshalb gegen die Vorstellung von einer Jogging-Gesellschaft. Auch die Krankenkassen erzählen uns, wir müssten uns bewegen. Doch das ist zweitrangig. In erster Linie müssen wir eine Umwelt schaffen, in der etwas zu bewegen ist.
Wo können Kinder noch etwas bewegen?
Zum Beispiel auf Bauspielplätzen. Aber solche personalintensiven Spielplätze haben sich inzwischen reduziert zu Gunsten von Gehegen, in denen zwar eine tolle Schaukel und eine tolle Rutsche stehen, aber alles ist fest montiert. Die Eltern passen immer ihre Kinder ans Gerät an, bis die Kinder das selbst können. Das heißt aber, ich lerne nur Anpassung. Das Spielen als Ausloten von Tiefe und Möglichkeiten wird immer mehr reduziert zugunsten einer vorschriftsmäßigen Anpassung, kulturhistorisch ausgedrückt: die Schnittstelle Mensch/Maschine wird vorproduziert.
Welche Folgen hat das?
Die Bandbreite der Möglichkeiten und Fähigkeiten geht verloren. Die Kinder sind zwar in Teilbereichen gut, aber sobald sie in komplexere Anforderungen kommen, fängt es an zu knirschen. So eine Anforderung könnte heißen: ich soll mich bewegen, gleichzeitig etwas tun und auch noch aufmerksam sein. Es gibt eine neue dazu passende Diagnose, die heißt Aufmerksamkeitsdefizit.
Schmalspurstrategie als Notlösung?
Das Problem in der Stadt ist, dass die Kinder immer auf vorgebahnten Wegen wie Gehsteig und Ampelübergang gehen müssen. Wir sind als Eltern gezwungen, auf Einhaltung dessen zu klagen und auf der anderen Seite ist das für die Kindesentwicklung eine Katastrophe, denn die Kinder bewegen sich gewissermaßen auf Schienen. Sobald sie in einen Bereich kommen, wo freie Bewegung angesagt ist, fehlt ihnen dazu die Erfahrung. Wir stellen bei unserer Arbeit fest, dass die Eigenregulation von Kindern immer weniger aufgebaut wird, das heißt die Fähigkeit, sich alleine zu orientieren.
Wie äußern sich Bewegungsdefizite im ganz normalen Alltag?
Wenn ein Kind kaum zur Ruhe kommt, ständig in Bewegung ist, häufig aneckt und seine Kraft nicht gut kontrollieren kann, bei Tisch schnell mal was umstößt, kann dies ein Hinweis auf Koordinationsschwächen sein; ebenso, wenn ein Kind hauptsächlich über Visus, also über Zugucken, handelt, wenn es ängstlich und langsam ist und am liebsten alles nur in Ihrer Begleitung tut. Es gibt Kinder, die erst in der Gruppe - Kindergarten oder Schule - Schwierigkeiten haben. Die Fähigkeit, in der Gruppe zurechtzukommen, hat auch mit Bewegungsfähigkeit zu tun.
Wachsen Kinder auf dem Land besser auf?
Das ist kein großer Unterschied. Auf dem Land sieht man kaum noch Kinder draußen spielen. Das Angebot von Fernseher, Video und Computer ist veführerischer. Die gesellschaftliche Attraktivität der „Kisten“ ist enorm. Die meisten Eltern arbeiten heutzutage am Computer. Das Gleiche gilt für Autos. Das erste Wort was Kinder lernen ist oft „Auto“, denn das ist das einzige, was man wirklich bewegt. Wenn das Kind in der Stadt aus dem Fenster guckt, sieht es mindestens zehn Autos und höchstens fünf Menschen, die zu Fuß gehen.
Wie verarbeiten Kinder diese krassen Sinneseindrücke?
Ich vermute, dass Kinder lernen damit umzugehen, weil sie da hineinwachsen. Aber das Problem ist, dass die Erziehungssysteme von uns betrieben werden, die wir noch alte Vorstellungen haben. Dazu gehört die Vorstellung, dass Konzentratonsfähigkeit länger als drei Minuten anhalten soll. Kein Musikstück dauert heute länger als drei Minuten. Wenn ein Kind morgens zur Schule geht, muss es 10.000 Reize verarbeiten, Plakate, Autos, Ampeln. Und dann soll das Kind schlagartig umschalten und sich eine Stunde lang konzentrieren - da werden Kinder auffällig. Das ist aber nicht ihre Schuld.
Müssen die Erziehungskonzepte umgeschrieben werden?
Das wäre der eine Weg. Andererseits gilt: wenn wir erkennen, dass da etwas schief läuft, müssen wir das genauer untersuchen. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass immer mehr Kinder hautallergische Reaktionen zeigen. Die Dünnhäutigkeit im Sinne einer Verabeitungsschwäche ist therapeutisch tatsächlich nachweisbar. Außerdem sind zu viele Kinder zu dick. Viel zu viele Kinder haben medizinisch gesehen Haltungsschäden. Zu viele Kinder fühlen sich in ihrem Körper nicht zu Hause, wenn keine Reize mehr von außen kommen. Hibbeligkeit ist keine Charaktereigenschaft, sondern immer ein Hinweis darauf, dass die Versorgung des Körperlichen mehr werden muss.
Woran erkennen Eltern, wann ihr Kind therapiebedürftig ist?
Vielleicht müssen wir uns vom Begriff der Therapie entfernen und eher fragen, wo ist der Punkt, wo wir etwas anders machen müssen. Die Grenze sehe ich nicht beim Kind, sondern immer im gesamten System. Da kommen wir zum Begriff der Vitalität. Ich stelle fest, dass viele Erwachsene aufgrund ihrer eigenen Belastung Vitalität nur noch selten erleben. Kinder haben ein Recht auf Vitalität, aber sie treffen statt dessen auf erschöpfte Eltern. Es heißt immer, die Kinder seien überreizt. Aber in einer Welt, in der die Erwachsenen ständig überreizt sind, sind es die Kinder natürlich auch. Und in solchen Situationen ist es sinnvoll sich Hilfe, auch therapeutische, zu holen.
Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?
Da wir Erwachsenen die Verantwortung für diese Welt haben, müssen wir bei uns anfangen. Wir müssen das Problem lösen, indem wir wieder Vitalität erlangen, durch Spazierengehen, Musizieren, Tanzen, Kochen oder was auch immer. An dem, was die Eltern als attraktiv vorleben, orientieren sich die Kinder.
Bieten die Kindergärten ausreichend Bewegungsmöglichkeit?
Es gibt auch in Hamburg so genannte Bewegungskindergärten, die ein entsprechendes Konzept entwickelt haben. Und es gibt Sitzkindergärten. Das erkennt man am Mobiliar. Die Frage ist: Gibt es Freiräume oder ist alles zugeknallt mit Stühlen und anderer Materie? Dann ist die Frage der Außenfläche spannend, und wie oft die Kinder rausgehen.
Sollten Eltern dies ansprechen?
Auf jeden Fall. Der Kindergarten ist tatsächlich die soziale Einrichtung, in der man noch viel dafür tun kann. Auch Kindergärten müssen der Veränderung der Bewegungswelt Rechnung tragen. Interview: Mechthild Bausch
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