: Scheitern de luxe
ZUWANDERUNG (4): Die Ergebnisse von Rita Süssmuths Kommission sind enttäuschend. Über 500.000 Menschen werden darin fast völlig ignoriert: die so genannten Illegalen
Wer seit langem dafür gekämpft hat, die Entwicklung der Bundesrepublik zum Einwanderungsland anzuerkennen und das Staatsangehörigkeitsrecht wie die Integrationspolitik zu reformieren, kann sich über die Ergebnisse von Rita Süssmuths „Zuwanderungskommission“ eigentlich nur freuen. Vieles, was vor fünfzehn Jahren völlig utopisch erschien, ist heute selbstverständlich – und alles, wogegen Roland Koch vor kurzem noch nationalpopulistisch Wahlkampf geführt hat, darf heute als Konsens aller Parteien gelten. Anders, als die Bedenkenträger von Union und SPD meinten, hat kein deutscher Haider oder Le Pen die Irritation ausgenutzt, die eine solche Mutation unweigerlich mit sich bringt. Die Süssmuth-Kommission führt eine Koalition aus wirtschaftlichen und humanitären Befürwortern der „offenen Republik“ zum Erfolg, die stets für Augenmaß und Großzügigkeit plädiert haben.
Angesichts dessen kann es einem egal sein, dass man bei Talkshows und anderen Stammtischen als „Multikulti-Fantast“ verlacht worden ist. Wir schmunzeln jetzt über den Perfektionismus, der sich in Punktesystemen, Sprachkursen und Bundesämtern austobt; die Hauptlast der Integration trägt ohnehin die einheimische Bevölkerung, darunter Immigranten der ersten und zweiten Generation, die aus Eigennutz und Kindermangel nach einer „Zuwanderung“ verlangen, die kaum in der gewünschten Ordentlichkeit verlaufen wird. Die zögerliche Reaktion auf das zu spät reformierte Staatsangehörigkeitsrecht und die schwache Resonanz auf die überstürzte Green-Card-Regelung zeigen, wie viel Zeit schon vertan wurde, und das Geplänkel der Sozialdemokraten und Christsozialen hält die Reform weiter auf. Jetzt führt die SPD zudem ihren „Ausländerwahlkampf“ in Hamburg und anderen Großstädten – und zwar hemmungslos „auf dem Rücken der Betroffenen“ (Bundeskanzler Gerhard Schröder).
Ein Armutszeugnis ist, dass die Sozialdemokraten der weiteren Einschränkung des Asylrechts das Wort reden und Flüchtlinge ganz aus dem Einwanderungspaket heraushalten möchten. Damit haben die Grünen, nach dem begrüßenswerten Nein zur gentechnischen Wende der SPD, eine weitere Gelegenheit zum Schulterschluss mit den katholischen Bischöfen. Denn die haben sich jetzt einer Gruppe von Menschen angenommen, deren Zahl in der Bundesrepublik auf über 500.000 geschätzt wird und in ganz Europa mehrere Millionen betragen dürfte: der so genannten Illegalen. Es ist zu befürchten, dass die Regelungswut, die bislang in ein ebenso umständliches wie untaugliches Aufenthaltsrecht investiert wurde, sich künftig gegen nicht registrierte Einwanderer richten wird.
Die Süssmuth-Kommission hat zu deren prekärer Lage immerhin ein paar vorsichtige Worte gefunden. Die Bischofskonferenz war mutiger. Sie weist darauf hin, dass die Illegalen gewiss Täter, aber mehr noch Opfer sind. Die meisten verstoßen gegen Gesetze, weil sie keine Alternative zu illegalem Aufenthalt und illegaler Beschäftigung in der Fremde sehen, wo sie dann aufgrund ihrer Rechtlosigkeit Ausbeutung, Gewalt und rassischer Diskriminierung ausgesetzt sind. Die Bischöfe mahnen, man solle nicht nur Illegale verfolgen, die Straftaten begehen und Steuern hinterziehen, sondern auch die Schlepper, Schleuser und Zuhälter – und erst recht die Arbeitgeber, die Illegalen Beschäftigung anbieten, weil sie billig und leicht zu feuern sind. Zu den Nutznießern der Schattenwirtschaft zählen im Übrigen auch mittelständische Familien mit einer Putzhilfe aus Polen und viele Szenerestaurants mit netten farbigen Kellnern.
Zu Recht geißeln die Kirchenmänner auch, dass viele Einwanderer, vor allem Familienangehörige, erst infolge eines irrationalen, inhumanen Ausländerrechts für illegal erklärt worden sind, zum Beispiel geduldete Flüchtlinge aus Bürgerkriegsregionen, die aus Angst vor Abschiebung untertauchen. Aus der täglichen Seelsorge kennen Gemeindepfarrer die Ausweglosigkeit vieler Sans Papiers meist besser als die Behörden: wenn die schwangere Frau nicht ins Krankenhaus will, weil sie Angst hat, abgeschoben zu werden, oder wenn Kinder Analphabeten bleiben, weil die Schulbehörde sonst ihre Daten weiterleiten könnte, oder wenn einmal schwarzfahren die Existenz gefährden kann. Die Bischöfe stellen die richtige Frage in einer Situation, in der alles nach „nützlichen“ Einwanderern ruft: Genießen Illegale das „vom Aufenthaltsstatus unabhängige, vorstaatliche Recht des Individuums auf Schutz eines Kernbereichs fundamentaler Menschenrechte“? Mit anderen Worten: Nehmen wir sie überhaupt als Menschen wahr? Die Süssmuth-Kommission fordert, den Illegalen wenigstens den Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem offen zu halten und ihnen zu ermöglichen, vereinbarten, aber vorenthaltenen Lohn einzuklagen. Die Bischöfe verlangen mehr: eine großzügige Altfallregelung, also wie in anderen EU-Staaten die Legalisierung nicht registrierter Einwanderer, und eine neue Härtefallregelung mit liberaler Familienzusammenführung. Der Schutz von Ehe und Familie gilt auch für Menschen ohne Papiere.
Spricht da erneut der Multikulti-Fantast, stellt er sich jetzt gar vor Gesetzesbrecher? Ich gestehe: Das „Phantasma“ der Menschenwürde, das die Kirchenleute furchtbaren Juristen entgegenhalten, ist mir mehr wert als der Wohlstandsutilitarismus, der für das Elend der Welt keinen Blick mehr hat. Doch um beim Nutzenkalkül zu bleiben: Wer das vereinte Europa zur Festung gegen Illegale ausbaut, statt wenigstens ansatzweise das Armutsgefälle an seinen Grenzen zu mindern, und wer dann potenzielle Einzahler in die Sozialkassen, möglichst mit EDV-Kenntnissen und Doktortitel, gegen die armen Schlucker ausspielt, die nicht mal ein Anrecht auf Sozialhilfe haben, der wird auch mit seiner Einwanderungspolitik de luxe und à la carte scheitern. Denn der rabiate Ausschluss der illegalen Ausländer ist der Nährboden für jenen Rassismus, der die heiß ersehnten Einwanderer davon abhält, sich nach Deutschland zu begeben.
Was für Bischöfe eine humanitäre und pastorale Herausforderung darstellt, ist vor allem ein politisches Handlungsfeld, das die große Einwanderungskoalition geflissentlich übersieht. Man kann verstehen, wenn sich die Grünen endlich mal einen Policy-Erfolg an die Fahne heften möchten; aber wenn sie nachgeben, düpieren sie die Hilfsorganisationen, die in den Pufferzonen der Wohlstandsinseln tätige Hilfe leisten und jenen institutionellen Rassismus einzudämmen versuchen, den eine ungerechte Einwanderungspolitik mit zu verantworten hat. Welchen Beistand die Bürgergesellschaft den Illegalen, ihren Illegalen, geben kann, das wäre übrigens auch Stoff für die nächste große Rede des Bundespräsidenten. CLAUS LEGGEWIE
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen