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Wandel oder Chaos

Seit Beginn der Neunzigerjahre zerfällt der iranische Gottesstaat. Ob die Reformen zu mehr Freiheit und Demokratie führen, ist dennoch fraglich. Ein spannendes und kluges Buch von Navid Kermani

Gerade die religiösen Aufklärer sind allerdings keineswegs westlich orientiert

von BAHMAN NIRUMAND

Navid Kermani, Publizist und Islamwissenschaftler, war sich vermutlich bewusst, dass ein Buch über die jüngste Entwicklung im Iran ein Wagnis bedeutet. Denn die Lage des Landes ist unüberschaubar, voller Widersprüche – Hoffnungen, heute geweckt, werden am nächsten Tag zunichte gemacht. Eine umfassende, in sich stimmige Analyse ist kaum zu leisten. Das ist aber auch nicht Kermanis Absicht. Und doch gewährt sein Bericht, weit mehr als eine wissenschaftliche Untersuchung, einen tiefen Einblick in das Geschehen der letzten Jahre. Es sind Momentaufnahmen von wichtigen Ereignissen, von persönlichen Begegnungen mit Politikern, Geistlichen, Journalisten, Schriftstellern, Momentaufnahmen, die er wie Mosaiksteine zusammensetzt, um den vielseitigen, qualvollen Entwicklungsprozess eines von Islamisten beherrschten Landes hin zur Demokratie, zu einer modernen Gesellschaft zu vermitteln. Er berichtet von den atemberaubenden Ereignissen, hält aber auch immer wieder inne, gewährt sich selbst und den Lesern eine Pause, um nachzudenken, um nicht endgültige, aber doch allgemeine Schlüsse zu ziehen. Das verleiht dem Buch einen besonderen Reiz, eine Spannung, die von der ersten bis zur letzten Seite anhält.

Der Text beginnt mit der Veröffentlichung eines von 134 iranischen Schriftstellern unterzeichneten offenen Briefes gegen die Zensur im Oktober 1994 und endet im Juni 2000, als der populäre Autor Houshang Golshiri zu Grabe getragen wird. Der offene Brief war nach langen, dunklen Jahren der erste öffentliche Protest gegen die Islamisten, er bildete den Auftakt des allgemeinen Aufbegehrens, das später den Namen „Reformbewegung“ erhielt. Die Reaktion der Theokraten ließ nicht lange auf sich warten. Einige Unterzeichner wurden kaltblütig ermordet, andere verhaftet oder zur Flucht ins Ausland getrieben.

Es waren aber nicht nur Schriftsteller, die sich öffentlich zu Wort meldeten. Kermani zeigt anschaulich, wie bereits zu Beginn der Neunzigerjahre in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft ein Zerfallsprozess im iranischen Gottesstaat einsetzte. Frauen forderten Mitspracherecht, Jugendliche wollten endlich frei sein und Spaß am Leben haben. Am empfindlichsten traf die islamischen Herrscher jedoch das Reformbegehren der islamischen Geistlichkeit, unter denen die Radikalsten sogar die Trennung von Staat und Religion forderten. Der politische Machtkampf zwischen Reformern und Konservativen, der sich in den letzten Jahren immer mehr zugespitzt hat, ist ein deutlicher Hinweis auf jene Erosion, die bereits Jahre zuvor unter der politischen Oberfläche nahezu die gesamte Gesellschaft erfasst hatte.

Diese Erosion gründet für Kermani in den massiven Erschütterungen, die den Iran in den letzten zwanzig Jahren getroffen haben: in der gewaltsamen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der radikalen Umorientierung der Werte, in Massenhinrichtungen, dem achtjährigen Krieg gegen den Irak, dem fast eine Million Iraner zum Opfer fielen, in Korruption und Misswirtschaft, endlosen Terroranschlägen, Flucht von über drei Millionen zumeist der Mittelschicht Angehörenden, darunter zahlreichen Akademikern und Fachkräften. Wen wundert es, dass selbst jene Schichten, die zu Beginn der Revolution die eigentliche Basis des Gottesstaates bildeten, ihm inzwischen den Rücken gekehrt haben? Diesem Staat, schreibt Kermani, „ist die Gesellschaft abhanden gekommen.“

Aber so schrecklich die letzten 22 Jahre auch gewesen sind, sie haben das Land zur Selbstbesinnung, zu einer tief greifenden Reflexion über die eigene Geschichte, Tradition und Religion veranlasst. Kermani zeigt, wie die Erlebnisse der letzten Jahre selbst die ursprünglich treuesten Anhänger der Revolution – darunter zahlreiche Geistliche – allmählich säkularisiert haben. Er weist aber zu Recht darauf hin, dass gerade die religiösen Aufklärer, anders als die laizistischen Intellektuellen, keineswegs westlich orientiert sind. Sie setzen sich zwar mit westlichem Denken und westlicher Kultur auseinander, doch ihre aufklärerischen Gedanken wurzeln in der eigenen Kultur, Religion und Tradition, sie sind das Resultat von historischen Prozessen und gesellschaftlichen Erfahrungen. Das genau verleiht der Bewegung eine Substanz und eine historische Legitimität, die ihr Erfolg und Dauerhaftigkeit sichern könnten.

Getragen wird die neue Bewegung vor allem von Frauen und Jugendlichen. Die Islamische Republik hat die Frauen aus ihren Häusern herausgeholt, um sie für Massenaufmärsche und Versammlungen, für Dienstleistungen und hinter der Kriegsfront einzusetzen. Doch einmal außer Haus, gingen sie ihren eigenen Weg. Selbstbewusster als je zuvor sind sie nahezu in allen Bereichen der Gesellschaft aktiv. Zurzeit gibt es an den Universitäten mehr Studentinnen als Studenten. Auch die Jugendlichen, die rund 70 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, wollen endlich frei leben. „Sie sind“, schreibt Kermani, „die Gängelungen satt, die Korruption, die Arroganz, die Vorsicht, nicht überall sagen zu können, was sie denken, und vor allem die Anmaßung eines Staates, den eigenen Bürgern und zumal der Jugend vorzuschreiben, wie sie leben, was sie lesen, welche Musik sie hören, an wen sie glauben sollen.“

Mit der Wahl Chatamis zum Staatspräsidenten des Iran im Mai 1997 trat das Brodeln im Innern der Gesellschaft an die politische Oberfläche. Chatami hatte zuvor elf Jahre lang dem Regime als Minister gedient. Doch irgendwann trieb ihn der Zweifel ins politische Abseits. 1997 stellte er sich zur Wahl, versprach eine zivile Gesellschaft, Demokratie und gleiches Recht für alle. Über 70 Prozent der Wähler stimmten für ihn. Wie viele werden bei der kommenden Wahl am Freitag sein? Chatami, das weiß man, ist kein Revolutionär, er hat nicht vor, den islamischen Staat abzuschaffen. Sein Ziel ist es, ebendiesen Staat zu reformieren und zu demokratisieren.

Der Präsident hat wenig Macht. Während das Volk immer lauter nach Reformen ruft, legen ihm die Konservativen ständig Steine in den Weg. Er fordert Geduld, bahnt sich seinen Weg mit behutsamen, kleinen Schritten. Das hat ihn bisher nicht allzu weit gebracht. Und doch ist der Iran nicht mehr das Land, das es vor Chatamis Wahl gewesen ist. Wird Chatami sein Ziel erreichen können? Kermani wagt keine Prognose. Wie Millionen Iraner schwankt auch er zwischen Hoffnung, Zweifel und Verzweiflung: „Die Alternative zu einem sanften Wandel aber ist nicht der dauerhafte Status quo“, sondern Chaos und jenes Ausmaß an Gewalt, das Revolutionen, vor allem aber Bürgerkriegen eigen ist. Im Iran ist die Alternative zur Freiheit, wie der Journalist Maschollah Schmsolwaezin es gesagt hat, „der Tod“.

Navid Kermani: „Iran. Die Revolution der Kinder“. 240 Seiten, C. H. Beck, München 2001, 38 DM (19,43 €)Der Rezensent Bahman Nirumand floh erstmals unter dem Schah aus dem Iran, 1982 verließ er das Land endgültig und lebt seither in deutschem Exil.

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