: Einsamer Rufer für das Gedenken
taz-Serie „Die Aktivisten“ (Teil 2): Der Diplomlandwirt Matthias Burchard kämpft seit neun Jahren dafür, dass sich die Agrarwissenschaftler der Humboldt-Uni ihrer Vergangenheit stellen. In der Nazizeit entstand hier der Generalplan Ost, der den Mord an 25 Millionen Menschen vorsah
von PHILIPP GESSLER
Matthias Burchard muss lachen: An dem WG-Tisch eines Altbaus in Schöneberg schaut er auf zwei selbst gemachte Plakate, die man sich über die Brust und den Rücken binden kann, sodass der Kopf herausguckt wie das eine Ende einer Bratwurst im Brötchen. Hier in der Küche lagern die Plakate. Jeden Morgen beim Frühstück hat er einen Blick auf sie: „60 Jahre universitärer ‚Generalplan Ost‘ in 2002“ steht auf einer Seite. Etwas angeschmuddelt sieht das Plakat schon aus, „kampferprobt“, wie der Diplomlandwirt sagt. Ungefähr 40, 50 Mal, so schätzt er, habe er es in den vergangenen neun Jahren schon geschleppt: Nacheinander durchgestrichen sind die Zahlen, die anzeigen, wie lange die auf ihnen angeprangerte Untat nun schon vergangen ist – 50, dann 54, dann 57, jetzt 59 Jahre.
„Generalplan Ost“? Diesem Thema hat Matthias Burchard sein Leben verschrieben. Nur kann kaum jemand etwas mit diesem Stichwort anfangen. Dabei war das mal eine große, schreckliche Sache: „Die mehrjährige Raum- und Siedlungsplanung der Berliner Universität 1940–44 (‚Generalplan Ost‘) sah Völkermord für mindestens 25 Millionen rassisch unerwünschte Zivilisten vor (Abschiebung in Hungerzonen, Zwangsarbeit)“, steht auf Burchards Plakat.
Im Kern geht es dabei um Wissenschaftler, die einen Vernichtungskrieg, einen Völkermord vorbereiteten. In pseudowissenschaftlichen Expertisen lieferten sie den Nazis während des Krieges einen Plan, wie die eroberten Gebiete in einem großdeutschen Reich bis zum Ural genutzt werden sollten. Am 28. Mai 1942 gab das Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik der Berliner Universität eine Fassung dieses „Generalplans Ost“ heraus, der so einflussreich wie mörderisch war.
Burchard schreibt in einem Flugblatt: „Die Fassung vom 28. 05. 1942 sah die ‚Reduzierung‘ der Bevölkerung Leningrads von 3,2 Millionen Zivilisten (1939) auf 200.000 germanische städtische Neusiedler nach 25 Jahren vor. Die prozentuale ‚Eindeutschungsfähigkeit‘ für polnische Menschen lag bei unter einem Prozent.“
Der Horror, der hinter diesen bürokratischen Wörtern lauert, hat Burchard erfasst, seit er 1991 in der Ausstellung „Der Krieg gegen die Sowjetunion“ in der damaligen Ausstellungshalle der „Topographie des Terrors“ in Kreuzberg war. Ein „Schlüsselerlebnis“, wie der 40-Jährige sagt. Denn in dieser Schau stieß er plötzlich auf das Foto des „einflussreichsten Agrarwissenschaftlers in der NS-Zeit“. Es war der SS-Mann Konrad Meyer (1901–1973), der Leiter des Instituts für Agrarwesen und Agrarpolitik, angesiedelt in Dahlem. Burchard wurde sich schlagartig bewusst, dass dieser Mann früher mehr oder weniger das Institut leitete, an dem er selber gerade studierte. Und das sogar noch in den gleichen Gebäuden. „Mensch, das war ja genau das Haus“, fuhr es ihm durch den Kopf. In seiner Fakultät aber habe nichts an diese düstere Geschichte und die Macht Meyers erinnert, der damals sogar Weisungsbefugnis gehabt habe gegenüber dem Landwirtschaftsministerium, dem „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“ und dem „Reichsnährstand“, dem Zwangszusammenschluss der Agrarverbände in der Nazizeit.
So kam Burchard auf Meyer und schrieb über ihn seine Diplomarbeit, die mit „Sehr gut“ benotet wurde. Es war der erfolgreiche Schlusspunkt eines relativ gradlinigen Ausbildungsweges mit Abitur in Celle 1980, 18 Monaten Bundeswehr und einer abgeschlossenen landwirtschaftlichen Lehre im Harz und bei Celle, ehe es ihn zum Studium der Agrarwissenschaften zog – zuerst in Göttingen, dann nach Berlin. Als er 1994 sein Diplom in der Hand hält, hat er zehn Jahre studiert – nicht nur studiert: Seit Jahren steht er mit seinen beiden Sandwich-Plakaten vor fast jeder Sitzung des Fakultätsrates an der Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät der Humboldt-Universität in Mitte. Um dagegen zu protestieren, dass sie „ihren aktiven mehrjährigen Beitrag zur Zwangsarbeits- und Genozidplanung in Berlin Dahlem (1939–1944)“ nicht bedauert, wie ein Flugblatt verkündet.
Seit neun Jahren macht er das nun schon. Meist allein. Dazwischen liegen nach seinem Universitätsabschluss zwei Jahre, in denen er „rumgereist“ sei, wie er sagt: nach Israel ging es – und Poster von Jerusalem in seiner Wohnung zeugen von seiner anhaltenden Begeisterung für dieses Land. Dann fährt er mit Christen einer Kirchengemeinde als „humanitäre Hilfe“ Kleidung, Medikamente und Bibeln zu einer Stadt im Nordural. Es folgen Projekte und Aktivitäten in Nordostpreußen, wo sein Vater ein Drogentherapiezentrum aufgebaut hat, in Kiew, wo er zum 50-jährigen Jubiläum des Kriegsendes 1995 ein Treffen deutscher und russischer Veteranen organisiert – bis Burchard 1997 schließlich an seiner Fakultät für anderthalb Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter wird. Doch für den Ausbau seiner Diplomarbeit zu einer Dissertation habe ihm das Große Latinum gefehlt. „Was habe ich eigentlich 1998 gemacht?“, fragt sich Burchard kurz, als er seinen Lebensweg zu rekonstruieren versucht.
Tja, was? Burchard begann, sich an der Vergangenheit abzuarbeiten. Er macht seine Fakultät auf jüdische Veterinär- und Agrarwissenschaftler aufmerksam, denen in der Nazizeit der Doktortitel aberkannt wurde. Er setzt sich über Monate für die Ehrung des Gründungsdirektors des ersten Instituts für Marktforschung ein: Karl Brandt, der 1933 wegen der Nazis in die USA emigrierte. In seinem Haus engagierte er sich für die Installation einer Tafel zur Erinnerung an die früheren jüdischen Bewohner des Gebäudes. Zwischenzeitlich arbeitet er in der privaten Krankenpflege – seit Februar vergangenen Jahres lebt Burchard von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
Für den Fotografen ist er zu seiner Fakultät in der Luisenstraße bei der Charité gekommen: ein eher schlacksiger, jungenhafter Mann mit einer leicht kantigen Brille. Auf dem Kopf eine ausgewaschene Baseballmütze der Humboldt-Universität, ein kurzärmeliges, kariertes Hemd, eine blaue Jeans ohne Gürtel, zwei Fahrradspangen um die Fußknöchel, die Füße in Socken und Birkenstocksandalen. Eine messingfarbene Alluminiumtafel hat er mitgebracht: Sie beschreibt in etwas umständlichen Worten die historische Schuld des Instituts, bedauert sie und mahnt ein besseres Verhalten in der Zukunft an. Mit einem Helfer des Antifa-Referats hat er die Tafel ohne Einwilligung der Universität im Februar 2000 an einer Wand in der Eingangshalle seines Instituts angedübelt – etwa eine Woche blieb sie hängen, dann wurde sie abmontiert.
Als er die Aktion Ende Januar dieses Jahres wiederholen will und dies auch ankündigt, erhält er vom Präsidenten der Humboldt-Universität einen Brief: „Eine derartige Aktion ist Ihnen vor einem Jahr schon einmal durch den damaligen Vizepräsidenten, Herrn Prof. Schröder, untersagt worden. An dieser Beschlusslage hat sich bis heute nichts geändert.“ Das Gebäude sei zudem denkmalgeschützt: „Bei Zuwiderhandlung werden wir unser Hausrecht wahrnehmen.“ Eine Gedenktafel an den Gebäuden der Universität stelle eine Meinungsäußerung der ganzen Universität dar – er könne „als Einzelperson“ deren Meinung nicht vertreten. Außerdem betreibe die Humboldt-Uni „die Aufarbeitung ihrer Geschichte auf seriöse Weise“. Burchard habe die Möglichkeit, sich daran „entsprechend zu beteiligen“. Das habe er aber bisher abgelehnt.
Ein Mitarbeiter des Präsidenten klagt, man habe versucht, mit Burchard etwas „seriös zu machen“, aber der sei „beratungsresistent“. Er bringe seine Sache „unprofessionell“ vor – alle, die ihm hätten helfen wollen, habe er verprellt. Neuerdings richte er Dienstaufsichtsbeschwerden an den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse – „an den Papst, glaube ich, noch nicht“. Langsam bringe er die Uni um ihren Ruf. Burchard hätte sein Projekt mit einem Doktorvater anpacken, eine Stelle annehmen und dann eine Dissertation zu seinem Thema schreiben sollen: „Dann läuft das ganz anders.“ Denn: „Sein Anliegen ist als solches gut, aber wie er es macht, geht es nach hinten los.“
Der so Beschimpfte sitzt in seiner WG-Küche. Jetzt wolle er es wissen, sagt er, „ich habe nichts gegen eine Zuspitzung der Lage“. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) müsse 50 Millionen Mark, das Bundesforschungsministerium 100 Millionen für die „positive Widerstandsforschung“ zur Verfügung stellen, um zu zeigen: „Widerstand ist möglich.“ Mit 50 Millionen Mark müssten Forschungsarbeiten zum „Generalplan Ost“ gefördert werden – dafür wolle er „Geld sehen, und zwar großes Geld“. Schließlich habe man einen Völkermord geplant. Zur Erforschung dieses Verbrechens würde eine „kleine Doktorarbeit“ von ihm nicht reichen. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, erwägt Burchard eine Untätigkeitsklage gegen den Dekan seiner Fakultät, den Präsidenten der Humboldt-Universität, das DFG-Präsidium und die Bundesforschungsministerin.
Dann druckt er noch ein paar Unterlagen im Schlafzimmer aus. Über einem Sofa hängen Fotos von Martin Luther King, von Willy Brandts Kniefall in Warschau, von einem unbekannten Widerstandskämpfer des Attentats gegen Hitler am 20. Juli 1944 und vom Schweizer Wachmann Christoph Meili. Der rettete 1997 historische Akten, die vernichtet werden sollten, obwohl oder weil sie die umstrittene Rolle der Schweizer Banken während des Zweiten Weltkriegs belegten. Eine Postkarte hängt über einem der Schreibtische im Zimmer: „Lieber Matthias Burchard“, steht dort handschriftlich, „als wir Deine Texte durchgelesen haben, erkannten wir, welch eine große Aufgabe Dir der Herr auf die Seele gelegt hat.“ Einen unglücklichen Eindruck macht Burchard nicht. Selten lacht er nicht.
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