: Mäuse, Milchfischsammler, Mord und Tod
Dank seines ersten Internationalen Literaturfestivals ist Berlin für zehn Tage Mittelpunkt der Weltliteratur. Nobelpreisträger und unbekannte Autoren drängeln sich auf den Bühnen
Internationale Filmfestspiele Berlin, Internationale Funkausstellung Berlin, Internationales Artforum Berlin, Internationale Berlin Biennale, Internationale Tourismusbörse Berlin – die Hauptstadt schickt sich an im weltweiten Wettbewerb der Metropolen den Preis um Internationalität allein für sich zu beanspruchen. Und so hat Berlin seit gestern Abend nun auch sein Internationales Literaturfestival. Keine Eintagsfliege im Betrieb der Worte, sondern ein jährlicher Fortsetzungsroman. So jedenfalls ist es geplant.
Zehn Tage lang heißt es nun: „Berlin flaggt: Poesie!“ Das klingt ein wenig nach Kampagnen wie „Gesicht zeigen“, mit der man gegen ein Zeichen gegen Rassismus setzen will. Und tatsächlich haben sich die Organisatoren des Festivals auch auf ihre Fahne geschrieben, „einen Beitrag zur Weltoffenheit, Toleranz und Gastfreundschaft Berlins leisten“ zu wollen. Literatur als Global Player in der schönen neuen Welt des Multikulti möchte man meinen. Und Berlin mittendrin. Mittelpunkt der Weltliteratur.
Ulrich Schreiber, der Festivalleiter und Initiator, macht keinen Hehl aus den Beilagen der Gefälligkeit, die eine Veranstaltung solchen Ausmaßes braucht: „Literatur ist an sich ein Global Player. Sie wird ja schließlich überall geschrieben. Und es gibt sicher Autoren, die sich nur mit der schönen neuen Welt beschäftigen. Es gibt aber auch die, die andere Töne anschlagen.“ Und vor allem die interessieren ihn.
Von den rund 80 SchriftstellerInnen aus 50 Ländern hat er selbst 40 ausgewählt. Als Leiter der Berliner Peter-Weiss-Stiftung ist Schreiber ein ausgewiesener Garant für Qualität. Auch die Internationalen Filmfestspiele seien ja nicht ausschließlich Hollywood und Name-Dropping auf roten Läufern, sondern auch das „Forum des internationalen Films“, ein Ort fürs Unbekannte, Ungewöhnliche und manchmal auch Unbequeme. „So haben wir auch die Architektur unseres Festivals geplant. Ohne große Autorennamen ist so etwas aber in Berlin nicht zu machen.“
Doch selbst darin unterscheidet sich das Literaturfestival wohltuend von seinem Vorbild mit den laufenden Bildern. Mit der Südafrikanerin Nadime Gordimer eröffnet eine Literaturnobelpreisträgerin das Festival. Kaum einer anderen Autorin ist es bisher gelungen, die Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen und Weißen in Südafrika, ihren langen Weg in eine friedliche Koexistenz, auf den engen Fokus kleiner Kernfamilien herunterzuschrauben und doch die ganze Gesellschaft und die Ungerechtigkeiten der Welt im Blick zu haben.
Mit dem Norditaliener Antonio Tabucchi wird das Festival am 24. Juni im Berliner Ensemble ausklingen. Der Professor für portugiesische Sprache und Literatur in Siena hatte seinen bisher größten Erfolg mit dem Roman „Erklärt Pereira“, eine politische Gesellschaftsstudie über die 30er-Jahre seiner zweiten Wahlheimat Portugal. 1995 wurde sein Buch mit Marcello Mastroianni in der Rolle eines sich allmählich politisierenden Kulturedakteurs während der Diktatur Salazars verfilmt.
Ulrich Schreiber kam vor drei Jahren im August auf dem Poetenfest in Erlangen die Idee zum Internationalen Literaturfestival. Wie ein Schwamm voll Wasser aufgesogen vom Wortschwall fragte er sich, warum so etwas nicht auch in Berlin geht. Seither hat er ein weltweites Netz von Juroren gespannt und die Hälfte der AutorInnen auswählen lassen. Als oberstes Kriterium galt: die literarische Qualität. Weniger von Bedeutung war es, ob die Juroren SchrifstellerInnen aus ihren Ländern einluden. Wichtig aber war es Schreiber, dass ein Gleichgewicht zwischen Frauen und Männern, Prosa und Lyrik, bekannten und unbekannten, jungen und alten AutorInnen gehalten wurde. Gerade Ersteres ist im Programm auffällig. Während man auf den Berliner Filmfestspielen die Regisseurinnen nach wie vor an zehn Fingern abzählen kann, geben sich auf dem Literaturfestival AutorInnen das Mikrofon in die Hand.
Und der literarischen Qualität scheint die politische Korrektheit auf den Fuß zu folgen. Unter den afroamerikanischen Autorinnen finden sich Schrifstellerinnen, die nicht unwesentlich zur Anerkennung afroamerikanischer Literatur und Kultur beigetragen haben. Als die 1952 in Ohio geborene Rita Dove 1995 im Weißen Haus aus ihrer Dichtung „Petersilie“ über den haitianischen Diktator Rafael Trujillo las, erklärte sie anschließend: „Da war ich nun, im Weißen Haus auf dem höchsten Level von Macht, und ich wollte darüber sprechen, wohin Machtmissbrauch führt. Und ich wollte auch darüber sprechen, wie wichtig es auf allen Lebenswegen ist, sich in eine andere Person versetzen zu können. In jenem Gedicht habe ich versucht, verstehen zu helfen, wie Trujillo diesen Punkt erreicht hat – nicht um nur zu sagen, dass er ein schrecklicher Diktator war, sondern um klarzumachen, dass auch der Teufel kreativ ist.“
Trujillo hatte 1937 auf den Zuckerrohrplantagen 20.000 schwarze Haitianer allein aufgrund der Aussprache des Wortes Petersilie – sie konnten kein „R“ sprechen – aussortieren und umbringen lassen. Anfangs war sich Rita Dove unsicher gewesen, ob nur irgendjemand im Weißen Haus von Poesie in einem solchen Kontext etwas hören wollte. Am Ende hatte sie gezeigt, das die Poesie viele verschiedene Aspekte menschlichen Glücks, menschlicher Triumphe und Tragödien beschreiben und verständlich machen kann.
Einige der Texte, die in den kommenden zehn Tagen nicht nur zu hören, sondern auch von Fassaden hängend zu lesen sein werden, sind eigens für das Festival entstanden. Vielleicht wird Wilhelm Genazino, ehemaliger Pardon-Redakteur sowie scharfsinniger Beobachter von Alltagsphänomenen, wieder einen Beitrag leisten über die Banalität des Unaufräumbaren, wie etwa den DIN-geformten Plastikstuhl des „Weltkleinbürgertums“. „Augenfibeln für Großstadtmenschen“ schreibe er, hieß es einmal über den 1943 in Mannheim geborenen Autor.
„Was versammelt sich nicht alles in Berlin! So viele Seelenlandschaften wie Autoren breiten sich hier aus, so viele Kontinente, Regionen, Sprachen, Traditionen, Temperamente, Stile“, heißt es im Programm der Veranstalter. Mäuse und Nachbarn in New York, Milchfischsammler auf den Philippinen, Ironie und Distanz, Mord und Tod werden versprochen. Fehlen nur noch die ZuhörerInnen. Mit 20.000 rechnet Ulrich Schreiber, damit wären auch alle Kosten gedeckt. Der Rest ist durch Sponsoren, allen voran die Stiftung Deutsche Klassenlotterie, finanziert.
Das könnte zu schaffen sein, klingt nach Bescheidenheit. Was sind schon 20.000 Menschen in einer 3,5-Millionen-Stadt, Hauptstadt unternehmungslustiger und eventorientierter Singles. Doch in einer Medienwelt, in der schnell verdauliche Videoclips scheinbar immer häufiger und allerorts den intellektuellen Hunger stillen, die Multiplexkinos über ausbleibende Zuschauer jammern, dürften es allein Worte schwer haben.
Sicher, das dazugehörige Programm „Internationaler Kinder- und Jugendliteratur“ werden Berliner Schulklassen füllen. Und das Heer der Literaturkritiker wird einfallen, loben und maulen. Auf der internationalen Bühne wird sich Berlin mit den etablierten Literaturfestivals in Jerusalem, London, Rotterdam und Toronto vergleichen lassen müssen. Lange Rede, kurzer Sinn: kein leichtes Debut also.
PETRA WELZEL
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