: Nie wieder Nirwana!
Keine Coming-out-Geschichte ohne unsicheres Kreisen um einen Ort der Verheißung, den zu betreten gleichwohl allen Mut erfordert. Bei mir hieß dieser Ort „Muttis Bierstuben“. Und es wurde so schrecklich, wie der Name klingt. Auf alles war ich gefasst – dachte ich –, nicht aber auf ältliche Männer in Polyesteranzügen, die traurig an der Theke Bier trinken und dazu deutsche Schlager hören. Bis heute ist mir schleierhaft, was junge Schwule damals, 1980, in Bielefeld abends mit sich und miteinander anfingen. Warten, bis auch sie fünfzig sind und dann traurig Bier trinken und Schlager hören?
Wahrlich, mein erstes Jahr in der „Großstadt“ war mühsam. Muss man als junger Schwuler erst ein paarmal aufs falsche Pferd setzen? Meine hießen VHS-Selbsterfahrungsgruppe (geschiedene Frauen im Gespräch mit stotternden Studenten – weit und breit kein anderer Homo), hießen Kontaktanzeigen (immer gleich: zwei Briefe, ein Treffen, null Folgen), hießen „Muttis Bierstuben“. In der „Tagesschau“ hatte ich im Jahr zuvor Bilder von „Homolulu“ gesehen, der ersten schwul-lesbischen Großdemonstration. Aber wo lebten all diese Menschen? Auf dem Mond!
Nein, natürlich lebten sie auch in Bielefeld. Es gab sogar eine geradezu notorische „Initiativgruppe Homosexualität Bielefeld“ (IHB), schwer zu übersehen in linken Kreisen. 1980 hatte die IHB Furore gemacht, weil sie in der Bonner Beethovenhalle eine Diskussionsveranstaltung („Parteien auf dem Prüfstand“) zum Thema Homosexualität torpediert hatte. Alles alte Polithasen – bestimmt schon um die 25. Keine Adresse für einen unbedarften Junghomo. 1981 wagte ich mich in die erste Sitzung einer Nachwuchsdivision der IHB. Hier durfte der Nachwuchs einmal ohne die älteren Kader reden, in einem „Schwulenzentrum“ genannten Raum im Arbeiterjugendzentrum. Unterschwellig freilich wirkte auch hier die Botschaft, dass Aufnahme nur fände, wer das Besteck der Gesellschaftsanalyse auch IHB-like zu benutzen verstand. Eine neue Heimat? Nicht wirklich.
Die fand sich erst einige Monate später über Eigenregie, in einer Coming-out-Gruppe an der Uni. Man traf sich – des Pudels Kern! – privat, jeweils montags. Ohne Anleiter, ohne Supervision und ohne Ideologie! In der Gruppe gab es sogar einen Befürworter der Atomkraft, oh, là, là! Auf diese Liberalität waren wir durchaus stolz (auch wenn ich zugeben muss, dass Atomkraft ja nicht unser Thema war). Dies nun also war der Ort, wo voraussetzungsloses Sprechen möglich war: „Wie war das denn bei dir?“ Endlich stellte sich das Gefühl ein: Du bist nicht allein. Welche Erleichterung! Endlich kam wieder Leben in die Bude, aus der ich die ungeliebten alten Kleinstadtbande konsequent ausgeschlossen hatte. Nie wieder Nirwana!
Wundersamerweise gab es kurz darauf gleich drei, vier Schwulengruppen in Bielefeld und zwei Diskos. Großartige Vielfalt. Ich erinnere mich an einen Begrüßungsbesuch bei den Kollegen von der DeSI (Demokratische Schwuleninitiative). „Und was macht ihr so?“, fragten wir Uni-Homos arglos unsere Gastgeber, die noch jünger waren als wir selbst. „Wir sind Arbeiter!“ Bei späteren Diskussionsveranstaltungen stand es wie ein Bollwerk zwischen uns: Die DeSIs fragten nach dem gesellschaftlichen großen Wurf, wir wollten erst einmal wissen, was wir denn selber wollen.
Doch auch durch Ausdifferenzierung kann Heimatgefühl entstehen. In unserer Gruppe zum Beispiel wirkten unterschwellig immer dann zwei Kräfte, wenn’s um den Humor ging. Da gab es die einen – das waren natürlich wir –, die entwickelten viel Spaß an der bisweilen grotesken Note der Homosexualität, den gelegentlich durchschimmernden Verklemmungen und Übertreibungen, kurz: an allem, was man gemeinhin „camp“ nennt. Und dann gab’s die anderen, an denen diese Freuden komplett abperlten. Das war dann gelegentlich wie in diesem Filmseminar an der Uni mit fünfzig Heteros und drei Homos: Wir lachten immer bei anderen Filmszenen. Eine Heimstatt im Humor – nicht die schlechteste Behausung.
Vollends getrennte Welten aber schuf die „Fummelfrage“. Waren die Fummelfeinde verklemmt, von vorgestern? Klar war jedenfalls, dass es eine Trennlinie gab, über die keine Brücke führte. Merkwürdigerweise übernahmen später die Lederkerle die Rolle des Katalysators. Noch heute passiert es mir, dass ich auf Feiern lande, bei denen sich die Gäste unabgesprochen aufteilen: im einen Raum die Männer mit Schnauz und Ledermontur, im anderen der Rest. Was aber nicht schlimm ist: Gleich und Gleich gesellt sich gern. REINHARD KRAUSE
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