: Aufbruch ins Ungefähre
Wer Visionen für eine innovative Politik sucht, schaue nicht auf Berlin. Keine der Parteien wagt hier, auf aktivierende Sozialpolitik oder bürgerschaftliches Engagement zu setzen
In diesen Wochen verändert sich die Republik. In Frankfurt am Main und Saarbrücken erleben wir den Beginn einer institutionalisierten Zusammenarbeit von CDU und Bündnisgrünen. In Berlin zerbricht die große Koalition und wird ersetzt durch ein rot-grünes Bündnis – toleriert von der PDS. Der Kanzler und sein Generalsekretär beobachten dies heiter und gelassen, drängen sich doch die Bündnispartner immer stärker in ihre Koalitionsarme, um hernach als Parteien zu schrumpfen, erst die Bündnisgrünen, dann die PDS.
Angela Merkel will derweil aus der CDU eine lebendige Partei machen, die keine Angst hat vor Veränderungen. Die Vorsitzende trägt plötzlich, aber beharrlich Ideen zu Themen, Prioritäten und Perspektiven der Zukunft vor, die tatsächlich viel Sinn ergeben – mit Blick auf die Zeit nach der Bundestagswahl. Für die Phase bis zur Wahl jedoch irritieren sie. Und zwar ebenso die eigenen Mitglieder, die jetzt keine neuen, differenzierten Gedanken erwarten, wie die meisten Medienleute, die von Merkels Vorgehen offenkundig überfordert sind. Nach der Wahl 2002 wird sie wohl zu Recht fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, dem Konsenskanzler mit einer intelligenten und differenzierten Politik, mit einer sanften Alternative statt mit einem Konfrontationskurs in die Parade zu fahren. Dann auch werden viele in der Union kritisieren, dass die CDU lange nur von der „Mitte“ geredet hat, statt ihre Ziele an zwei, drei Beispielen plausibel zuzuspitzen. Das Risiko von Merkels Plan liegt auf der Hand: Personen, Partei und Politik bleiben blass, wenn die Zuspitzung nicht gelingt, wenn der Aufbruch im Ungefähren stecken bleibt. Dabei hat die CDU-Chefin ja durchaus neue Töne angeschlagen. „Wer Hilfe braucht, hat Anspruch auf Solidarität der anderen. Wer Solidarität anderer in Anspruch nimmt, muss umgekehrt den ihm möglichen Beitrag für die Gemeinschaft erbringen.“ Warum sagt sie nicht deutlicher, dass ihre „Wir-Gesellschaft“ keine Gartenlaube, sondern eine Gesellschaft der wechselseitigen Verpflichtungen ist, die den Leuten mehr zumutet als bisher, und zwar den Starken und den Schwachen?
Solidarität ist vielerorts verludert zu einer Verteidigung der Besitzenden und der Besitzstände, und dann ist weder Geld noch Energie vorhanden, wenn es um die wirklichen Skandale unserer Zeit geht. Nirgendwo kann man das besser studieren als in Berlin. Da verteidigt der Sozialpopulismus einer ganz großen Koalition von Diepgen bis Gysi das Dogma vom Verbot betriebsbedingter Kündigungen als eine soziale Errungenschaft, und alle leben ganz gut mit dem sozialen Ärgernis, dass ein Drittel aller ausländischen Kinder und Jugendlichen in Berlin (in der übrigen Republik etwa 20 Prozent) ohne Hauptschulabschluss in ein Leben ohne Chancen geht. Merkel ist auf der richtigen Spur, und sie macht es angenehmer und intelligenter als die Faulenzer-Kanonaden des Kanzlers, wenn sie zwischen den Zeilen auf die unsozialen Folgen der „sozialen“ Status-quo-Bündnisse hinweist, die allüberall herrschen in der Gesellschaft, aber auch in ihrer eigenen Partei.
Diepgen hat in all den Jahren die Bundes-CDU nicht inspiriert und Berlin nicht den Rest der Republik. Wer heute studieren will, wie eine aktivierende Sozial(hilfe)politik from welfare to work aussieht oder eine intelligente Finanzierung der Kitas, wer beispielhafte Netzwerke bürgerschaftlichen Engagements, der Selbsthilfe oder Mediation und Konfliktlösung zwischen Deutschen und Ausländern sucht, der mag überall hinschauen, nach Frankfurt (am Main wie an der Oder), nach Rostock oder München – nur nicht auf diese Stadt.
Und das soll jetzt anders werden? Es gehört nicht viel Mut dazu, nur normaler Wille zur Macht, eine große Koalition zu verlassen, um dann selbst in die Senatskanzlei einzuziehen. Aber es gehört Mut dazu, eine neue Politik mit neuen Leuten einzuleiten. Wowereit hat seine Chance verdient. Bald wird man wissen, ob er sie nutzt. Bislang jedenfalls spürt man von neuen Ideen kaum einen Hauch, und, das ist das Entscheidende, man weiß auch nicht so recht, woher sie kommen sollen. Milieu, Mentalitäten, der gesamte mind set haben sich ja nicht geändert. Sie laufen auf ein politisches Glaubensbekenntnis hinaus, dessen einfache Wahrheiten sich lange eingeprägt haben: Subventionen sind gut; der öffentliche Dienst ist es auch, je mehr, desto besser; Wettbewerb ist unsozial, und den Bürgern mutet man am besten gar nichts zu. Dieses Credo war über lange Jahre hinweg die Formel zur Macht, aber es war eben auch die Formel zu Filz, Skandalen und Niedergang.
Ein neues Denken kommt nicht über Nacht, nicht ohne Schmerzen und Widersprüche, und meist entsteht es abseits der Schlagzeilen, in eher abstrakten Bildern wie bei Angela Merkel, manchmal auch in parteinahen Studien. Eine Projektkommission der Heinrich-Böll-Stiftung hat jetzt in einer bemerkenswerten 34-seitigen Expertise aus der Kernidee einer sozialen Bürgergesellschaft heraus eine Sozial- und Arbeitsmarktpolitik entwickelt. Liest man diese Expertise durch und fragt sich dann, wer diese Perspektive langsam Wirklichkeit werden lassen könnte, dann denkt man an die neue Berliner Konstellation zuallerletzt. Der ehemalige SPD-Vordenker Peter Glotz schrieb mit Recht: „Gegen eine libertäre Wirtschaftspolitik, die den fürsorglichen Sozialstaat modernisiert und verschlankt, wird der linke Flügel der SPD ebenso wüten wie die Minderheit der Grünen und eine Mehrheit der PDS“ –, und „auch Überflieger wie Gregor Gysi können dieses strukturelle Dilemma einer rot-rot-grünen Koalition nicht wegpusten.“
Aber neue Wirklichkeiten schaffen neue Themen. Und neue Themen suchen sich mit der Zeit neue Bündnisse: erst der Ideen, dann der Personen, schließlich der sich verändernden Parteien. In Saarbrücken und Frankfurt am Main haben Bündnisgrüne und Christdemokraten entdeckt, dass sie bei wichtigen Zukunftsfragen in der kommunalen Politik, von der Stadtentwicklung über die lokale Beschäftigungspolitik und die Tagesbetreuung bis hin zur Integration von „Ausländern“, mehr verbindet als jeden von ihnen mit den Sozialdemokraten. Das wird auch anderswo umso sichtbarer und auch selbstverständlicher werden, je mehr die Anfänge und Milieus beider Parteien Vorgeschichte werden und je mehr die neue Realität veränderter Lebens-, Arbeits- und Familienwelten die Szenen, die Agenda und die Optionen beherrscht.
In Berlin wiederum geht mehr zu Ende als die Ära Diepgen. Es beginnt eine längere Übergangszeit, die ein paar Überraschungen, Arabesken und auch Senate hervorbringen wird. Die Zeitenwende besteht ja nicht im Wechsel von Diepgen zu Wowereit, nicht einmal darin, dass eine von nun an schrumpfende PDS in die Regierung kommt. Die Zeitenwende besteht darin, dass ungefähr zur gleichen Zeit zwei mächtige Ordnungen zerbrochen sind: die internationale Ordnung des Kalten Kriegs und die soziale Ordnung der Industriegesellschaft. Mit der sich dynamisierenden Industriemoderne, dem kapitalistischen Wohlfahrtsstaat und dem Kalten Krieg hat Berlin seine großen Zeiten erlebt. Nun ist die Stadt – was Wunder? – von deren Ende in besonderer Weise betroffen. Aber Berlin hat auch eine besondere Chance: die Idee einer Stadt zu formulieren, die die Schwachen stärkt und sie mit den Starken in die Pflicht nimmt für einen gemeinsamen politischen Anspruch, der mehr meint als die vielerlei Ansprüche; einen sozialen und öffentlichen Zusammenhang zu stiften und nicht eine mehr oder weniger friedliche Koexistenz von gated communities und Slums, Arroganz und Trägheit. Berlin hat die Chance, wieder eine politische Anrede an die Bürger zu formulieren, die aufhorchen ließe.
Zu viel verlangt? Regierungen und Parteien, nicht nur in Berlin, werden ohnehin Antwort geben auf die Frage, wie Politik nach dem Ende der großen Ordnungen aussehen könnte. Wolfgang Schäuble wäre eine politische Antwort auf die neue Lage, der Berliner Fraktionsvorsitzende Steffel ist nur eine Aussage der Berliner CDU über sich selbst.
Personen und Politiken werden wieder über die Stadt hinaus ausstrahlen, ansteckend oder abschreckend. Am Ende wird sich auch zeigen, aus welchem Stoff der Kanzler gemacht ist, der das alles betrachtet, als ginge es ihn nichts an: ob er durch sein machtpolitisches Koalitionskalkül Zeit und Optionen gewinnen wollte, um die Republik ohne Blessuren in die neue Realität zu führen, oder ob er sich nur etwas länger an der Macht halten wollte. WARNFRIED DETTLING
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