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An den Beweisen wird gearbeitet

Die Anklagen gegen inhaftierte Demonstranten während des EU-Gipfels in Göteborg stehen auf wackligen Füßen. Zeugenaussagen deuten stattdessen immer wieder auf absurde Gewaltakte der schwedischen Polizei

aus Stockholm REINHARD WOLFF

Am Montag der kommenden Woche beginnt in Göteborg der erste Prozess wegen der Unruhen im Zusammenhang mit dem EU-Gipfel Mitte Juni. Am Dienstag hatte als erster in einer langen Reihe noch anstehender Prozesse ein 19-jähriger Abiturient aus Bad Münstereifel seine Anklageschrift erhalten. Ihm wird „Beteiligung an gewaltsamem Aufruhr“ vorgeworfen. Entgegen erster Agenturmeldungen hat er diese Tat nicht gestanden.

Der Deutsche war zusammen mit einem Freund nach eigener Aussage als „gewöhnlicher Tourist“ nach Göteborg gekommen. Er nahm am Abend des 15. Juni an einem Straßenfest auf dem „Vasaplatz“ teil, welches die Organisation „Reclaim the city“ veranstaltete. Ein genehmigtes Fest, welches die Polizei aber urplötzlich umzingelte und auflösen wollte, weil man unter den TeilnehmerInnen angeblich „Gewalttäter“ vermutete. Im Zusammenhang mit den dabei ausbrechenden Auseinandersetzungen warf der jetzt Angeklagte – nach eigener Einlassung, weil ihn der Polizeieinsatz „aggressiv“ machte – zumindest einen Stein, der aber auch nach Meinung der Anklage niemanden traf. Der Vorgang wurde auf einer Fernsehaufnahme festgehalten, mit deren Hilfe er auch identifiziert wurde. Kurze Zeit später wurde er – und zwei weitere Demonstranten – von der Polizei angeschossen und am linken Bein verletzt. Im Krankenhaus war er dann von der Polizei identifiziert worden. Er kann sich nach wie vor nur auf Krücken bewegen.

Der Straftatbestand der „Beteiligung an gewaltsamem Aufruhr“ ist mit einer Mindeststrafe von zwei Wochen und einer Höchststrafe von vier Jahren Haft bedroht. Verteidiger Claes Östlund sagt über seinen Mandanten, der eigentlich in dieser Woche seinen Zivildienst beginnen sollte: „Da war nichts vorbereitet. Er gehörte keiner Organisation an. Er hat einfach eine Situation nicht mehr beherrschen können und dazu kam der Gruppendruck. Im Nachhinein kann er alles kaum mehr erklären.“

Schwedens Justiz will offenbar schnell die ausländischen Staatsangehörigen unter den 49 Personen vor Gericht stellen, die derzeit in Untersuchungshaft sitzen. An den Beweisen wird offenbar noch kräftig gearbeitet. Eine spezielle Ermittlungstruppe aus über 60 PolizeibeamtInnen und neun StaatsanwältInnen geht derzeit umfangreiches Bild- und Filmmaterial durch, das im Verlaufe der Demonstrationen und Auseinandersetzungen aufgenommen worden war. Wie von der alternativen Wochenzeitung Stockholms Fria Tidning veröffentlichte Bilder zeigen, hatten sich offenbar Dutzende ähnlich den Autonomen vermummte Polizeibeamte unter die DemonstrationsteilnehmerInnen gemischt und teilweise eifrig mit ihren digitalen Videokameras gefilmt.

Erstmals wurde jetzt zugegeben, dass auch deutsche Polizeibeamte – daneben auch solche aus Finnland, Norwegen und Dänemark – vor Ort in Göteborg ihren KollegInnen beim Versuch der Identifizierung von SteinewerferInnen helfen.

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