: Haus mit Frauenzimmern
In Bremen wird zur Zeit Deutschlands größtes Frauenwohnprojekt bezogen, der Beginenhof. Jetzt droht die Liquidierung der Genossenschaft
von ANNETTE KANIS
Es gibt Mietverträge, die verbieten Hundehaltung. Und es gibt Mietverträge, da steht etwas über Beginenkultur drin. Letzteren hat Beate Rösel vor wenigen Wochen unterschrieben. Sie ist eine der 72 Frauen, die im Bremer Beginenhof leben. Einem Wohnprojekt, das die mittelalterliche Tradition der Beginen neu belebt hat. Allein stehend, aber nicht allein, individuell, aber in der Gemeinschaft.
„Wenn ich allein stehend wäre, würde ich da sofort einziehen.“ So dachte Beate Rösel vor drei Jahren, als sie im Radio von dem Bremer Beginenmodell hörte. Damals bestand das heute größte Frauenwohnprojekt Deutschlands nur aus vielen Ideen. Rösel lebte noch mit ihrem Mann zusammen, ihre Tochter Rebecca war noch nicht geboren, sie arbeitete als Pfarrerin. Mittlerweile ist sie allein erziehende Mutter, und ihre Befürchtung, in einer anonymen Wohnung mit desinteressierten Nachbarn zu vereinsamen, sind im Beginenhof schnell verflogen.
Denn aus dem Projektstatus, aus den zahllosen Anträgen und schönen Architekturmodellen ist eine moderne Wohnanlage für Frauen geworden. Seit Ende April sind große Teile bezugsfertig. Die Nachfrage ist immer noch enorm. Aus Hamburg und Zürich, Thüringen und Köln zogen Frauen in den Beginenhof.
Auch Beate Rösel konnte mit ihrer dreijährigen Tochter einziehen. Sie wohnen in einer der Dreizimmerwohnungen, die mit Mitteln des sozialen Wohnungsbaus gefördert werden. „Hier sind viele in meiner Situation“, sagt Rösel und umschreibt damit manches, was bereits in den ersten Wochen nach dem Einzug zur Selbstverständlichkeit geworden ist, sei es die gegenseitige Kinderbetreuung, das gemeinsame Zeitungsabo oder das freundschaftliche Verhältnis zu den Mitbewohnerinnen. Zu älteren Frauen hat die 37-Jährige bislang wenig Kontakt. „Aber auch das wird sich hier schnell ergeben.“
Im Beginenhof trifft sich frau nicht nur im Vorübereilen, im Hausflur oder im Parkhaus. Dafür sorgen die Veranstaltungen des Beginenvereins sowie die von den Bewohnerinnen selbst organisierten Arbeitsgemeinschaften zu Themen wie „Zusammenleben“ oder „Stadtteilbezogene Kontakte“ – und die allgemeine Bereitschaft, eher mal eine Nachbarin zum Essen einzuladen, als sich den Abend lang allein vor dem Fernseher zu verschanzen.
Kontakt zu anderen Frauen, das ist auch der 79-jährigen Ursula Fest wichtig. In dem kleinen Flur ihres Zweizimmerapartments stehen noch die leeren Umzugskartons. Manches aus dem alten Leben, den fünfzig Jahren in der Kleinstadt Osterholz-Scharmbeck, konnte nicht mit in die 45 Quadratmeter. Nicht nur die Wohnungsverkleinerung war Neuland für Fest. „Wir duzen uns hier alle“, sagt sie mit einer Mischung aus Stolz und Skepsis in der Stimme. Ganz hat sie sich noch nicht daran gewöhnt. Und mit der weiblichen Endung tut sie sich erst recht schwer. Wenn Ursula Fest weiterhin von „Bewohnern“ und „Nachbarn“ spricht, wird bald eine der jüngeren Beginen versuchen, ihr die feministische Sprachkritik zu vermitteln.
Beim Stichwort „Altenheim“ lacht sie nur, erzählt lieber von der letzten Fahrradtour und was man mit den Frauen hier noch so alles machen kann. Dass Männer im Beginenkonzept außen vor bleiben? „Mit Frauen ist die Gemeinschaft sowieso besser.“
Sylvia Schlicht hatte erst ein Haus auf dem Land, dann eine Wohnung in Köln. Jetzt lebt sie in zwei Apartments ohne Trennwand im Beginenhof. In der Breite hat der Wohnraum Loftausmaß, eine meterlange Balkonfront gibt den Blick in den Himmel frei. Bei der Architektin hatte Schlicht individuelle Vorstellungen einbringen können.
Dabei hat die Sechzigjährige bereits an Eventualitäten späterer Zeiten gedacht. „Wenn ich mal pflegebedürftig bin, kann die Wohnfläche durch neue Wände verkleinert werden.“ Sachlich spricht Schlicht von Alter und Krankheit. Zum Beginenhofkonzept gehört das lebenslange Wohnrecht. Das heißt, eine Bewohnerin muss nicht fürchten, ins Altersheim abgeschoben zu werden. Vielmehr sollen ambulante Pflegedienste eingesetzt werden, und die Nachbarinnen können die soziale Betreuung übernehmen.
Links neben Sylvia Schlichts Wohnungstür hängt eine Schiefertafel, an einem Faden ein Stück Kreide. „Hast du Lust auf eine Radtour am Abend?“ Die Frage hat ihr eine Nachbarin hinterlassen, als sie heute unterwegs war. Die beiden werden noch eine Runde drehen, vielleicht an der nicht weit entfernten Weser. Ob Sport, Kino, Spieleabend, Internetsession oder Sonntagsfrühstück – die überdimensionierte WG sucht sich ihre kleinen Gemeinschaften. In wechselnder Konstellation, nach Interessen und Sympathien. Und wenn die Gemeinschaft erdrückend wirkt, bleibt die Wohnungstür eben zu. Oder wie es eine Bewohnerin mit ihrer zweiseitigen Fußmatte signalisiert: Bei Sonne ist jede Nachbarin willkommen, beim Mondbild soll keine stören.
Ein beständiger Wechsel von Wir- und Ich-Gefühl, Austausch und Ruhe, Verpflichtung und Freiheit, das ist der Beginenhof. Von solchen Möglichkeiten einer Hausgemeinschaft ahnen jene, die den Plausch über das Wetter, die Straßenbaustelle oder den Wocheneinkauf bereits als nachbarschaftspflegende Hochleistung ansehen, wenig.
Sylvia Schlicht kennt dieses flüchtige Grüßen im Treppenhaus aus ihrer alten Mietwohnung. Jetzt hat sie genau die Wohnform gefunden, die ihr seit Jahren vorschwebt. „Meine Familie hat mich hierhin geführt“, sagt sie und meint die Menschen, mit denen sie seit zwanzig Jahren ihren Urlaub verbringt, ihre vierzehnköpfige, immer mal wieder wechselnde Wahlfamilie. Das Urlaubskonzept hat sie nun auf die Lebensform übertragen. Dabei war für sie das Singledasein ausschlaggebend. „Paare und Familien schotten sich dann doch eher ab“, davon ist sie überzeugt.
Männer haben keineswegs Hausverbot im Beginenhof. Sie können zu Besuch kommen, übernachten. Doch mit einziehen in eine Wohnung, das dürfen sie nicht. „Die Männer könnten ja auch wieder Bruderschaften nach dem alten Vorbild der Begarden bilden“, meint Erika Riemer-Noltenius. Für die Initiatorin des Bremer Beginenhofmodells war entscheidend, eine Bereicherung weiblicher Lebensformen zu schaffen. Aus dem pragmatischen Grund, dass es eben mehr allein stehende Frauen gibt, die Interesse an gemeinschaftlichem Wohnen haben. Und aus der empirisch begründeten Überzeugung vieler Frauen, dass Männer das Leben ohnehin nur komplizieren würden.
Erika Riemer-Noltenius jedenfalls war begeistert, als sie während einer Wohnmobilreise mit ihrem Mann die historischen Beginenhöfe in Belgien kennen lernte. Mehr als zwanzig Jahre ist das her. Nach dem Tod ihres Mannes 1982 begann die damals Anfang vierzigjährige Politologin ihre späte feministische Karriere. Vorstand des Landesfrauenrats, Akademikerinnenbund, Gründung des Bremer Frauenclubs, Organisation der Virginia-Woolf-Frauenuniversität, Idee zur Bremer Frauenliste für die Bürgerschaftswahl – Mosaiksteine auf einem Weg, der Ende der Neunzigerjahre in eine kleine Zeitungsannonce in der Lokalzeitung mündete, wo Riemer-Noltenius Frauen suchte, die an einem Wohnprojekt nach Beginenart interessiert sein könnten. Erste Treffen, erster Ideenaustausch. Nach einem Jahr bereits hatte sie 400 Interessierte auf ihrer Liste.
Mit einer Wohngruppe oder einem überschaubaren Mehrpersonenhaus wollte sich Riemer-Noltenius von Beginn an nicht zufrieden geben. „Die Größe war für mich entscheidend, denn nur sie garantiert Stabilität, auch wenn es einzelne Reibereien gibt. Außerdem erforderte der Grundstückspreis eine verdichtete Bebauung.“ Die Größe beinhaltete dann auch ein Finanzvolumen von mehr als dreißig Millionen Mark. Geld, das nicht einfach zu beschaffen war.
„Viele haben mir das nicht zugetraut.“ Erika Riemer-Noltenius sagt das eher nebenbei, es ist nicht ihre Art, mit Erfolg zu prahlen. Sie weiß, dass viele Frauen ihre Idee unterstützt haben. Kürzlich war sie bei der UNO in New York und stellte das Beginenhofprojekt vor. Ständig hat sie Einladungen zu Vorträgen in ganz Deutschland. Anerkennung von außen. Doch jetzt, in der Endphase der Fertigstellung, ist die Finanzierung des Projekts ins Wanken geraten. Eingeplante EU-Fördergelder will der Bremer Senat nur noch gekürzt bewilligen. Auch bei den vorgesehenen Investitionszuschüssen für den zugehörigen Kindergarten möchte die Stadt lieber auf einen Mietvertrag umstellen. Der Genossenschaft droht die Liquidierung. Die Suche nach einem Käufer hat begonnen. Initiatorin Riemer-Noltenius hofft, dass die Sparkasse als Kreditgeber den Beginenhof übernehmen könnte.
Die Unsicherheit über die finanzielle Zukunft trübt die Euphorie des Neubezugs. Fünf Millionen fehlen. Was schon da ist? Neubegine Beate Rösel umschreibt das so: „Ein Zuhausegefühl.“
ANNETTE KANIS, 31, lebt in einem Düsseldorfer Mietshaus, plaudert mit NachbarInnen über das Wetter, die Straßenbaustelle und Nagellackfarben
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