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Infames Diskretionsgebot

„Ich bin schwul, und das ist auch gut so“: Das Outing des Berliner Regierungschefs Klaus Wowereit hat der Homosexualität etwas vom Ruch des Peinlichen genommen. Über Verhinderung, Erpressung und das große Verschweigen

von JAN FEDDERSEN

Mitte der Achtzigerjahre hatte der Musiker Rio Reiser mal wieder eine neue Platte produziert. Der frühere Frontmann von „Ton, Steine, Scherben“ hatte unter anderem einige wirklich grandiose Schnulzen produziert. Um deren Authentizität zu unterstreichen wies Reiser darauf hin, dass es sich um autobiografisch inspirierte Texte handele. Und wenn sie wollten, so der „König von Deutschland“ zu den Journalisten, könnten sie ja außerdem gerne schreiben, dass er schwul sei. Im Saal machte sich Schweigen breit. Dann sagte ein Journalist: „Rio, das ist schon okay, aber wir wollen dir ja nicht schaden.“

Diese Anekdote darf gerne als Indiz dafür genommen werden, dass die Zeiten sich geändert haben. Welcher Reporter würde sich diese Information schon entgehen lassen, zumal wenn sie der Betreffende zu veröffentlichen erlaubt hat? Keine Daily Soap kommt mehr ohne lesbische Heldin, ohne schwulen Helden aus. Bei den Freunden der „Lindenstraße“ bräche vermutlich ein Sturm der Besorgnis aus, erklärte Dr. Carsten Flöter unversehens sein heterosexuelles Coming-out.

Überall sind Homosexuelle, nur nicht allerorten öffentlich. Und das hat gute und bisweilen schlechte Gründe. Einer dieser angeblich guten Gründe liegt in der Geschichte Rio Reisers begraben. Denn in der Sorge der Journalisten, ihm, dem legendären Sänger der noch viel legendäreren Anarchoband, nicht schaden zu wollen, liegt ja auch eine tückische, wenn auch gut gemeinte Botschaft: Etwas ist an dir, was für dich schädlich ist.

Diese Botschaft kennt fast jeder homosexuelle Mann, jede homosexuelle Frau: Wenn es denn schon so ist, dann verschweige es wenigstens. Und die Begründungen sind immer ähnlich, auch in liberalen Milieus. Mach dich nicht angreifbar! Schade dir (und uns) nicht. Nicht vor den Verwandten, nicht vor der Wählerschaft! Nie wird signalisiert: Was scheren uns die anderen! Stets wird um Diskretion gebeten, wobei Schweigen gemeint ist.

Klaus Wowereit war Anfang Juni nur ein sozialdemokratischer Politiker, der eine Idee davon hatte, wie seine Partei nicht mehr zwischen PDS und Union zerrieben würde. Er wirkte unverbraucht im hauptstädtischen Klüngel – und war damit prädestiniert für eine Karriere außerhalb der Koordinaten, die die Diepgens der Stadt seit der Wende definieren. Innerhalb der Union wurde er nicht als Gefahr empfunden, schließlich, so wusste man, ist der Mann in einer Weise sexuell orientiert, die ihn nach ihren Vorstellungen ausschloss für höhere Aufgaben: einen schwulen Regierungschef hat es in der bundesdeutschen Geschichte noch nie gegeben.

Allein: Der 47-jährige Wowereit funktionierte nicht, wie die Union glaubte. Seine Homosexualität nahm er nicht duckmäuserisch als Grund, sich zu fügen. Vielmehr, die Geschichte wird selbst im Berliner Willy-Brandt-Haus immer noch wie ein modernes Märchen vom Sieg des Guten erzählt, outete der Politiker sich vor den Delegierten seiner Partei selbst. Und er tat es nicht mit dem Tremolo des zu Bedauernden, sondern – und das war der Bruch mit dem moralischen Konsens – selbstbewusst. So als ob nichts dabei sei, weil ja auch nichts dabei ist: „Genossinnen und Genossen, ich bin schwul – und das ist auch gut so.“

Das war, so wie es Wowereit zum Ausdruck gebracht hatte, eine grandiose Renaissance der SPD als moderne Partei, wenigstens von ihrem öffentlichen Image her. Plötzlich wirkte die Partei erfrischt. Und ebenso umstandslos wirkten viele Politikerbiografien wie Erzählungen aus den Niederungen der Lebenslügen. Auch sie schwul oder lesbisch, aber nie den Mut gehabt, nie ermutigt worden, der Öffentlichkeit nichts mehr vorzuspielen, etwa als ewiger Junggeselle oder taffe Karrierefrau, die keine Zeit für Männer hat. Mancher und manche von ihnen hatte nun das Gefühl, gegen dieses Selbstouting nur blass aussehen zu können. Ihnen half auch die Erkenntnis nicht, dass die SPD und Wowereit in den Umfragewerten mittlerweile sogar die Union überholt haben – bei den Abgeordnetenhauswahlen vor zwei Jahren lag die CDU noch achtzehn Prozent vor der SPD.

Dabei wäre es doch wirklich Zeit, mit einer üblen Traditionen in der Ausübung politischer Macht zu brechen. Schwule (und Lesben) hat es immer in der Politik gegeben. Doch wenn sie es bis ganz nach oben schafften, einige gar bis in Ministerränge, waren sie immer ein Stück weit erpressbar, in innerparteilichen Rankünen, durch den politischen Gegner, durch die Medien. Dabei spielte nie eine Rolle, dass in der Bundesrepublik die journalistische Perspektive durch das Schlüsselloch verpönt war: Es reichte das Wissen, dass ein solcher Blick in ihrer Sache lohnen würde. Homosexualität, so hatten sie gelernt, war ein Grund, allen Einfluss, alle Potenz und alle Kraft einzubüßen, wenn sie denn bekannt würde.

Konrad Adenauers Außenminister Heinrich von Brentano war immer wieder Objekt von Getuschel der miefigen Politikerelite der Fünfzigerjahre, weil er schwul war. Der Bundeskanzler verwies intern darauf, er sei von ihm noch nicht angefasst worden – das ramponierte Standing des Ministers für die bundesdeutschen Außenbeziehungen war mit solch süffisanter Apologetik nicht zu retten. Derlei Schicksale gab und gibt es viele. Dass kurz nach Ende der Nationalsozialismus – und dessen Glauben an die Soldatenhaftigkeit und Antihomosexualität des deutschen Mannes – keine Liberalität zu erwarten war, ist vielleicht verständlich.

Obskur nur, dass diese Moral des Schweigens und des Igittigitt-darüber-spricht-man-nicht nach wie vor gültig scheint. Ein Mann wie Rosa von Praunheim, der Anfang der Siebzigerjahre den Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ drehte und damit die moderne deutsche Homosexuellenbewegung ins Leben rief, muss extremen Frust empfunden haben, als er 1991 in der RTL-Krawallshow „Der heiße Stuhl“ zwei prominente TV-Entertainer als schwul outete. Zwanzig Jahre nach seinem Film, so muss es der Regisseur gesehen haben, haben die meisten schwulen Männer und lesbischen Frauen immer noch Angst wie ein Elefant vor der Mücke ... Da hat er nicht mehr an sich gehalten und die stille Übereinkunft der Homoszene verletzt – indem er Namen ausplauderte.

Tatsächlich hat Rosa von Praunheim nur etwas ausgesprochen, was ohnehin jeder wusste, aber keiner sagte. Die Betroffenen fühlten sich wirklich verpetzt. Einer von ihnen, Alfred Biolek nämlich, erklärte kürzlich in der Zeit, ihm sei damals sehr ratlos zumute gewesen, es sei „ein Tritt in den Rücken“ gewesen, aber heute fände er, dass ihm nichts Besseres hätte passieren können, weil dieser Tritt doch eine sehr verspannte Stelle getroffen habe – und diese sei nun ganz locker. Auch von Hape Kerkeling ist kein Karriereknick überliefert, höchstens jener, der daher rührt, dass sein Klamauk etwas aus der Mode gekommen scheint.

Dieses Outing war ein Petzen. Und jedes Outing ist Sache der Betroffenen selbst. Geschenkt.

Und sich in eigener Sache zu erklären, ist jedem und jeder angeraten, weil es wirklich freier macht. Weil es jede Erpressbarkeit ausschließt, so wie sie noch dem General Günter Kießling unterstellt wurde, weil er doch homosexuell sei. Davon abgesehen, dass die politische Elite der Bundesrepublik, allenthalben nach dem Generationswechsel durch die rot-grüne Regierung, nicht mehr in Kategorien denkt, nach denen Homosexualität einen Grund für Erpressbarkeit liefert, ist es doch so, dass niemand mehr am Pranger steht, weil dessen Schwulsein, deren Lesbischsein bekannt wird.

Im Gegenteil. Sie werden nur Teil des öffentlichen Gepränges um Privates. Also Objekte für Homestories und Urlaubsgeschichten in Illustrierten. Und das Volk genießt derlei Privates, wenn es denn nicht schlüpfrig ist, sehr sogar. Man kennt es aus den Niederlanden, aus Dänemark oder Schweden. Da sind Schwule und Lesben weit gehend Teil des bürgerlichen Tratschgewerbes. Dort wirken sie nicht so kühl und verhärmt wie hierzulande, wo den Betreffenden – nein, hier folgen jetzt keine Namen – noch die Angst im Antlitz anzusehen ist, die sie umtreibt, weil sie eben nicht mitmachen können (oder wollen) im heterosexuellen Schaulaufen. Und zugleich sind sie dort nicht auf die Rollen des Schrägen, Witzigen und Karnevalesken festgeschrieben: auch das ein Fortschritt an Lebensqualität.

Im Gegensatz zu den liberaler gestrickten skandinavischen Ländern gilt Homosexualität bei uns nach wie vor als Anzeichen für ein ungelungenes Leben. Psychologen, entsprechende Studien und klinische Berichte bieten reichlich Material, noch aus den Neunzigerjahren: Fast kein Jugendlicher oder Jungerwachsener im Coming-out berichtet davon, von seiner (heterosexuellen) Umwelt, vor allem von seiner Familie ermutigt worden zu sein, seinen oder ihren Weg zu gehen – mit der Gewissheit, dann auch beschützt zu werden. Wie ehedem, allen klimatischen Änderungen zum Trotz, empfinden es viele Eltern Homosexueller als beschämend, dass ihre Kinder nicht so vorzeigbar scheinen, dass sie so gar nicht zur Identifikation einladen.

Jede öffentliche Äußerung gegen Homosexuelle, beispielsweise die Klage einiger unionsregierter Länder gegen das Gesetz zu Eingetragenen Lebenspartnerschaften, wird von Schwulen und Lesben als Kränkung empfunden. Kein Wunder, dass im Umfeld der Union noch viel Mut dazu gehört, sich zum eigenen Anderssein zu bekennen. Dort sind freilich keine Aliens organisiert: vielmehr Familienväter wie Millionen andere Männer auch. An solchen Personen liegt es, dass viele Homosexuelle nicht couragiert genug sind, für sich einzustehen – ob in der Union, der SPD, bei den Grünen, der FDP oder der PDS.

Es gibt, in diesem Sinne, viel zu wenig Franz Münteferings, dessen Tochter Miriam lesbisch ist und mehrmals öffentlich zum Ausdruck gebracht hat, dass ihr Vater sie stark gemacht hat, nur ja nicht die eigene Kompassnadel aus dem Blick zu verlieren. Ein solcher Vater erinnert an die Geschichte, die einmal über die jüdische Philosophin Hannah Arendt erzählt wurde. Die wurde von ihrer Mutter aufgefordert, jede Diskriminierung als Jüdin in der Schule zu berichten, sie solle sich ja nichts gefallen lassen. Als die junge Hannah dies tat, ging ihre Mutter empört zum Schuldirektor und forderte ihn auf, die antisemitischen Ausfälle an der Schule zu unterbinden. Welche Eltern stehen ihren Kindern bei, wenn sie in der Schule als „Schwuchtel“ diffamiert werden? Welche Eltern bejahen ihre Kinder, egal wie sie werden?

Liberale Kommentatoren wie jener, der in der Süddeutschen Zeitung meinte, Klaus Wowereit habe sein Privatleben nur instrumentalisiert, irren. Der Mann räumte nur mit dem Missverständnis auf, Homosexualität sei eine Variante des Karnevals. Matratzenstories? Fehlanzeige. Nur das verkniffene Schweigen hat er gebrochen. Die Rolle des Klandestinen ist mit ihm nicht zu besetzen. Das wurde aber auch mal Zeit.

JAN FEDDERSEN, 43, ist taz.mag-Redakteur

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