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„Drei Pullover im Winter“

Die Ernst-Haeckel-Gesamtschule in Berlin-Hellersdorf ist baufällig und sanierungsbedürftig. Schüler und Lehrer reden über Farbe und marode Fenster, Uniformen sind eigentlich kein Thema

von HEIKE KLEFFNER

Wie ein verwunschenes Schloss duckt sich die Ernst-Haeckel-Gesamtschule in Berlin-Hellersdorf hinter saftig-grünen Hecken und den umliegenden Plattenbauten. Ein Schloss mit Schönheitsfehlern: Grauer, rissiger Beton an der Außenfassade, durch die Fensterritzen pfeift im Winter der Wind. Seit 1982, als der Plattenbau zu DDR-Zeiten für eine Polytechnische Oberschule gebaut wurde, ist in das Gebäude, in dem über 800 Schüler unterrichtet werden, kein öffentlicher Pfennig mehr investiert worden.

10 bis 15 Millionen Mark würde die Sanierung kosten, schätzt Schulleiter Jörn-Peter Roloff. Von den rund 100 Millionen Mark, die Schulsenator Klaus Böger (SPD) in diesem Jahr für die Renovierung maroder Schulen im Berliner Stadtgebiet zur Verfügung stellen will, erhalten Roloff und seine Schützlinge nichts.

Stattdessen muss er auf Eigeninitiative setzen: Mal sind es Lehrer, die beim Baumarkt Farbe erbetteln, um die Flure in freundlichere Farben zu tauchen – das Streichen erledigt dann der Hausmeister nebenbei. Mal ist es der Schulförderverein, der monatelang Geld sammelte, um ein graues Betonquadrat im Innenhof in einen verwunschenen Garten mit Tanne, Parkbank und rotem Ziegelofen zum Brotbacken zu verwandeln. Oder die Schüler, die aus einem dunklen Kellerraum ein Schülercafé im Stil eines S-Bahnhofs zauberten und dafür ausrangierte S-Bahnholzbänke und Bahnhofsschilder bekamen.

Mit Wehmut erinnert sich der 39-jährige Schulleiter in den lässigen Jeans und dem kurzärmeligen Hemd an „Aufbruchstimmung und Narrenfreiheit“ unmittelbar nach der Wiedervereinigung. „Heute kämpft die Schule ums Überleben“, sagt Roloff trocken. Zehn von 98 Schulen im Bezirk Marzahn-Hellersdorf sollen geschlossen werden, und der Beginn jedes neuen Schuljahrs ist eine Zitterpartie. In diesem Jahr ist der Sprung über die magische Grenze erst einmal geschafft: Mehr als 50 Schüler meldeten sich im Frühjahr für die kommende 11. Klasse der gymnasialen Oberstufe an. Damit ist die Schließungsdrohung vom Bezirksamt erst mal vom Tisch.

Wer den Schulleiter und seine Kollegen danach fragt, ob sie in jüngster Zeit über die Notwendigkeit von Schuluniformen diskutiert haben, erntet als Antwort verständnislose Blicke, Gelächter und eine Rangliste der Probleme: Auf Platz eins steht der Erhalt der Schule, dahinter drängeln sich gleichberechtigt die Suche nach Musik- und Chemielehrern, gefolgt von der Frage, wie man mit dem zunehmenden sozialen Gefälle unter den Schülern und mit einigen offen rechts auftretenden Jungs umgehen sollte. Deren Bomberjacken und Springerstiefel sind an der Schule zwar nicht verboten, tauchen aber auf dem Pausenhof nur vereinzelt auf. Zwar ist die dominante Jugendkultur im Bezirk eindeutig rechts, aber die wenigsten „der Glatzen“ finden sich momentan an dieser Gesamtschule.

Auch unter den 22 SchülerInnen der Klasse 11/2 wird das Thema Uniformen kaum diskutiert. „Die Gedanken im Kopf ändern sich doch nicht, nur wenn alle das Gleiche anhaben“, sagt der 17-jährige Silvio. Heute trägt er Schwarz – Hemd, Stoffhose, dazu passendes Jackett und Schuhe. Knapp 400 Mark, schätzt Silvio, hat er in das Outfit investiert, Geld von seinen Eltern bekommt er nicht. Wie zwei Drittel der 17- und 18-Jährigen aus seiner Klasse hat auch er einen Job: für 10 Mark Stundenlohn entlädt er Lkws in einer Baumaterialfirma. Im Moment spart Silvio für die zehntägige Klassenfahrt nach England. 70 Stunden muss er dafür arbeiten, hat er ausgerechnet.

Für Jenny, mit 19 eine der Älteren in der Klasse, stellt sich die Kleiderfrage nur nach Schulschluss. Nie würde sie freiwillig ihr Grufti-Kleid mit den schwarzen Fledermausärmeln gegen eine Schuluniform tauschen, auch wenn sie „früher mal“ wegen ihres Musik- und Kleidungsgeschmacks von Mitschülern gehänselt wurde. Nur wenn sie nachmittags in einer Rechtsanwaltskanzlei zum Jobben antreten muss, dann „gucke ich schon, dass ich etwas Gemäßigteres im Kleiderschrank finde“.

Jeans, Sweat- und T-Shirts, vereinzelte Hemden und Kleider – die Mehrheit in der Klasse 11/2 ist eher durchschnittlich unauffällig angezogen. „Der Terror mit den Markenklamotten ist in unserem Alter kein Thema mehr“, sagt Alexandra bestimmt. Mit ihren rot gefärbten Haaren und blauen Stiefeln muss sie sich immer mal wieder gegen das Etikett „Kifferin“ wehren.

Einig ist sich die Klasse, dass Schuluniformen eher in der 7. oder 8. Klasse sinnvoll wären. „Mein kleiner Bruder ist 12, und meine Eltern kaufen ihm Hosen für 120 Mark, weil der Gruppendruck in seiner Klasse so hoch ist“, berichtet eine 18-Jährige.

„Ärger wegen meinen Klamotten habe ich erst nachmittags“, sagt Alexandra, und alle in der Klasse lachen. Dass damit die Skinheads gemeint sind, die in größeren Gruppen rings um die Hellersdorfer S-Bahnhöfe auftreten, weiß hier jeder, auch Klassenlehrerin Kathrin Rudolph. Sie könnte sich „vielleicht mit Uniformen anfreunden, weil sie die Identifikation der Schüler mit der Schule verstärken würden“. Doch darüber muss sie sich zumindest in der 11/2 keine Sorgen machen. Einige der Jungen und Mädchen sind bewusst nach der 10. Klasse an die Ernst-Haeckel-Gesamtschule gewechselt. Deren naturwissenschaftlicher Schwerpunkt mitsamt Informatik als Pflichtfach, die Tatsache, dass einige Schüler zu den Preisträgern des Wettbewerbs „Jugend forscht“ zählen, aber auch „das offene Klima“, von dem viele Schüler schwärmen, haben ihre Wahl bestimmt.

Wenn sie sich etwas wünschen, dann keine einheitliche Kleidung, sondern Dinge, die den Schulalltag angenehmer machen würden: Neue Computer oder Fenster, „damit wir im Winter nicht mit drei Pullovern übereinander da sitzen müssten“, sagt Jan, und alle nicken. Sie kennen die Geschichte von einer Oberschule im gleichen Bezirk, deren Fenster im vergangenen Jahr mit großem Aufwand saniert wurden und die demnächst in einen rund 50 Millionen Mark teuren Neubau umziehen soll. „Das Geld hätten wir auch gut gebrauchen können“, sagen die Schüler der Klasse 11/2.

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