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Wagner und der Hintern

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Es gibt in beiden Fällen das merkwürdige Phänomen der Austreibung des Denkens durch das Denken

„Gleichwohl geht der Prozess der Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich.“ Richard Wagner. Die letzte Notiz

Am letzten Freitag gab Teddy Kollek in Jerusalem einen Empfang für seinen Freund Daniel Barenboim. Kollek, fast dreißig Jahre lang Oberbürgermeister von Jerusalem, ist gerade neunzig geworden. Er saß nachmittags unter Palmen auf der Hotelterrasse mit Rotwein und einer dicken Zigarre. Kollek hatte soeben Beethovens Fünfte gehört. Barenboim stand neben ihm, die Hand auf seiner Schulter, mit Rotwein und einer dicken Zigarre. Er hatte gerade die Fünfte dirigiert.

Beide fanden es ungemein tröstlich, dass es die Fünfte gibt und der andere noch immer so standhaft raucht. Denn ein paar Verlässlichkeiten muss es geben im Leben. In Israel sind es gerade sehr wenige Verlässlichkeiten geworden. Da trat Barenboim auf seinen Orchestervorstand zu und sagte ihm mit der Miene absoluter Beiläufigkeit, wie sie so gut zu Hotelterrassen passt, man könne morgen früh doch mal den „Tristan“ proben. „Tristan“ in Jerusalem? Der Orchestervorstand blickte sich hilfesuchend um. Sein Blick fand Halt an einem Altstadt-Minarett. Barenboim rauchte immer noch. Kollek auch. Alle Restkontinuitäten schienen unverändert in Kraft.

Das ist es. Man sieht gar nicht, wenn gerade eine abbricht. Und dabei handelte es sich hier um die allerletzte große Verlässlichkeit: Es gibt keinen Wagner in Israel! Es gab keinen mehr auf der Bühne, seit die jüdische Philharmonie am Tag nach der Pogromnacht 1938 das Vorspiel der „Meistersinger“ absetzte. Nur im letzten Herbst ein kleines „Siegfried-Idyll“ mit Rassel-Begleitung. Die Rassel gehörte einem Holocaust-Opfer.

Am letzten Sonnabend verloren Shoa-Opfer in Jerusalem gegen den Antisemiten Richard Wagner. Jedenfalls werden sie selbst es so begreifen. Trotz Schreien, Rufen und Türenschlagen – die „Tristan“-Zugabe, mit der niemand gerechnet hatte, fand statt. Was ist geschehen, wenn Holocaust-Überlebende in ihrem eigenen Land gegen einen Judenverächter verlieren?

Und was ist passiert, wenn eine Frauenrechtlerin gegen Verona Feldbusch verliert? Die Feministin unterlag dem Weibchen eine Woche zuvor im ZDF. Das Hirn dem Hintern, formulierten die Expressiveren. Ja, noch schlimmer: Der Hintern war ja das Hirn!, registrierte man aufrichtig erstaunt. Nun gut, Richard Wagner hatte das Duell Schwarzer–Feldbusch schon vorausgeahnt. „Gleichwohl geht der Prozess der Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich“, notierte er in einem seiner fünfzehn Zimmer des Palazzo Vendramin-Kalergis in Venedig. Unten im Salon spielte sein Sohn Siegfried, 13 Jahre alt, Klavier. Dann starb Wagner. Am Schreibtisch. Inmitten dieser letzten Anmerkung zur Frauenbewegung. Unklar ist bis heute, ob Wagner in seiner Sterbeminute wirklich Alice Schwarzer vor sich sah. Halten wir das gleich mal fest: Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit gingen geschichtlich oft zusammen. Bei Wagner nicht.

Trotzdem, es schmeckt in beiden Fällen nach dem Sieg des Vorgestrigen. Menschen von unbewölkt-progressiver Gemütslage müssen die Ereignisse der letzten Tage sehr irritieren. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Die Letzten werden die Ersten sein. Ein biblisches Wort. Es passt gut nach Jerusalem. Vor allem aber ist es die Logik der Moderne, was sein Urheber, das Christentum, am Anfang gar nicht wissen konnte. Denn moderne Zeiten brechen an, wenn immer mehr Gruppen der einst Unterdrückten und Entrechteten nach vorn treten können und sagen: Wir sind auch wer! Alles Tabubrecher. Große Mauerneinreißer. Zuerst kamen die Bürger. Dann die Frauen. Die Arbeiter. Die Juden. Sämtliche Völker der Erde. Und wie erklärt man wohl Kommunisten? Von der Antike bis zu Nietzsche nannte man ihre soziale Zielgruppe die Schlechtweggekommenen. Seit die Schlechtweggekommenen aber eine Pose einnehmen und sagen: Uns gibt es auch noch!, heißen sie die Kommunisten. Sie wurden eine politische Kraft. Genau wie die Frauen unter Alice Schwarzer. Und die Shoa-Überlebenden unter dem Staat Israel.

Und plötzlich spürt man: Die Ersten werden die Letzten sein! Die einstigen Tabubrecher und Mauerneinreißer, sie errichten ja neue Mauern. Und neue Tabus. Sie, die die Logik der Fundamentalisten störten, werden selber Fundamentalisten.

Eine Kritikerin der Verona-Feldbusch–Alice-Schwarzer-Begegnung sprach von der „Rückkehr zu voremanzipatorischen Verhaltensweisen“. Denn natürlich sei naiv, wer hinter dem Werbespruch „Was Verona anfasst, wird groß“, nicht die sexuelle Anspielung erkenne. – Ja, aber darum geht es doch! Nur weil man sie erkennt, funktioniert Feldbuschs Kleinbildkamera-Werbung. Weil man darüber lachen muss. Und weil es überhaupt unmöglich ist, der Freude, auch Verona Feldbuschs Freude an sich selbst, ein schlechtes Gewissen zu machen. Alice Schwarzer nimmt nichts ernster als die Werbung. Sie rechnet nicht mit unseren Resistenzkräften. Aber wer das nicht kann, glaubt der an die Autonomie des Einzelnen?

Unklar ist bis heute, ob Wagner in seiner Sterbeminute wirklich Alice Schwarzer vor sich sah

Mit dem Wagner-Boykott in Israel ist es dasselbe. Es ist auf die Dauer unmöglich, Musik zu verbieten, die eine Mehrheit hören will. Und war es nicht immer eine vorzügliche Eigenschaft von Fundamentalisten, im Namen aller zu sprechen? Das setzte Verona Feldbusch ins Recht gegen Alice Schwarzer. Das setzt nun Barenboims Entscheidung, Wagner zu spielen in Jerusalem, ins Recht gegen seine Kritiker.

Es gibt dieses merkwürdige Phänomen einer Austreibung des Denkens durch das Denken. Die einen wissen genau, was frauenfeindlich ist, unbekümmert um die Wahrnehmung des Einzelnen. Die anderen wissen genau, dass Wagners 19.-Jahrhundert-und-Künstler-Konkurrenz-Antisemitismus auf den Vernichtungsantisemitismus des 20. Jahrhunderts hinauslief. Aber erst jenseits solcher fatalen Ziel-Weltbilder könnte Wahrnehmung genau werden. Und der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts könnte als eigenständiges Phänomen gesehen werden. Oder wollen wir auch den Antisemitismus des Juden Marx in Auschwitz enden lassen? Das Denken in Großformaten wird lebensfeindlich zuletzt. Doch bleiben es traurige Triumphe. Dass ausgerechnet das Designer-Ich der Feldbusch Alice Schwarzer überglänzt. Und dass manche Holocaust-Überlebende ihr Land nicht mehr verstehen nach dem Konzert der Staatskapelle.

Am Morgen nach der „Tristan“-Nacht erklärte das Simon-Wiesenthal-Zentrum, Barenboim habe das Recht verwirkt, weiterhin in Israel aufzutreten. Eine Zeitung titelte „Barenboim boykottieren“. Er muss es geahnt haben. Er gab dem israelischen Rundfunk und Fernsehen in der Nacht noch ein paar Interviews. Wagner Hitler zu überlassen, das wäre ein Sieg Hitlers. Er dankte morgens um vier in der Hotellobby dem schlaflosen Rest seines Orchesters. Und flog los nach Los Angeles. Ausreisen, bevor die anderen sagen, dass man nicht wieder einreisen darf. Mag sein, Barenboim hat unterwegs an Herrn Stroumsa gedacht, den alten Musiker aus Jerusalem mit der Nummer 121.097 auf dem Arm. Herr Stroumsa war im Lagerorchester von Auschwitz. Herr Stroumsa liebt Wagner. Vielleicht war er am Samstag im Konzert.

Autorinnenhinweis:Kerstin Decker ist Publizistin und lebt in Berlin

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