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„Das ist nicht mehr das Spiel, das wir lieben“

Die Kommerzialisierung des Fußballs zerstört das letzte soziale Bollwerk der Familie: den gemeinsamen samstäglichen Fernsehabend

Der Mensch ist ein Mängelwesen, das über erstaunliche Fähigkeiten verfügt, mit seinen Defiziten zurechtzukommen und sich an neue Umstände zu gewöhnen. Früher zum Beispiel war das deutsche Familienleben bestens eingerichtet, vor allem am Samstagabend: Man sah – über die Generationen hinweg – gemeinsam fern und erfreute sich an „Wünsch dir was“. Später, in sozialliberalen Zeiten, bröckelte diese Harmonie; die Kinder gingen plötzlich abends aus dem Haus, vertrieben sich die Zeit in Diskotheken oder anderen anrüchigen Etablissements. Selbst Thomas Gottschalk konnte mit „Wetten dass“ diese Zersplitterung des Familienverbands auf Dauer nicht aufhalten.

Auch der Samstagnachmittag hatte seine festen, natürlich gewachsenen Konturen. Ab 15 Uhr 30 hörte man Radio, nicht irgendein Programm, sondern herrliche Sendungen, die „Heute im Stadion“ hießen und allmählich, so gegen 17 Uhr 04, im Erotischsten kulminierten, was sich ein Mann vorstellen kann: in der Konferenzschaltung. Danach durfte die Erregungskurve ein wenig abklingen, ehe es die „Sportschau“ mit sonoren Gesichtern wie Ernst Huberty oder Hans-Joachim Rauschenbach erlaubte, das Gehörte am lebendigen Bild zu überprüfen.

Das war eine schöne Zeit, und wie fast alle schönen Zeiten liegt auch diese hinter uns. Danach, in den Neunzigern, brachen alle Dämme. Erst „Anpfiff“ bei RTL (Potofski hieß der Mann, oder?) und dann die Quälerei mit „ran“, diesem mit Torraumszenen angereicherten Werbeblock, der selbst hartgesottene Fans auf die Uhr blicken ließ und den ganzen Abendrhythmus (Nachtmahl, Wannenbad, Ausgang usw.) durcheinander brachte. Und weil es die Gesetze des Geldes befahlen, zerstückelten wenig später seelenlose Profitgeier den Spieltag in drei, ja vier Einheiten. Überdies drangsalierte man uns mit Reporterchargen, deren Namen Papenburg oder umgekehrt lauteten und die manchmal sogar die Sehnsucht weckten, öffentlich-rechtliche Quälgeister wie Béla Réthy oder Michael Steinbrecher wiederzusehen.

Wir haben das alles ausgesessen, sind dabei aber älter und unglücklicher geworden. Mit der neuen Bundesligasaison freilich scheint die Zumutbarkeitsgrenze endgültig überschritten. Weil sich Pay-TV in Deutschland partout nicht aus den roten Zahlen herausbewegen will, sollen wir nun bis Viertel nach acht auf frei zugängliche Spielzusammenfassungen (und das in der gewohnten Sat.1-Zubereitung!) warten. Keiner der konservativen Politiker dieses Landes, die wöchentlich die Segnungen der Familie preisen, hat sich bislang lautstark zu Wort gemeldet, um dieser finalen Zerstörung des Samstagabends Einhalt zu gebieten. Vater und Mutter gemeinsam vor dem „Musikantenstadl“ – dieses Bild gehört der Vergangenheit an. Frauen werden entnervt ins Tischtuch beißen; die Beischlafgepflogenheiten von Ehepaaren werden völlig durcheinander geraten; Jugendliche werden erst nach „ran“ aus dem Haus gehen und folglich den Gefährdungen der Nacht stärker ausgeliefert sein, und wir alle müssen tapfer der Versuchung widerstehen, Premiere World zu abonnieren.

Auf Plakaten prangt derzeit allenthalben das Konterfei von Marcel Reif, jenes „Bitte, ein Bit“-Kommentators, der gern als sorgenvoller Kritiker des Profifußballunwesens auftritt und nun für das Bezahlfernsehen die Werbetrommel rührt. Da wir – im Gegensatz zu anderen – nichts vergessen, erinnern wir uns sofort an ein 1997 im Afra-Verlag zu Butzbach-Griedel (sic!) erschienenes Buch mit dem schönen Titel „Fußball ohne Brutalität. Erster Ehrenkodex des Fußball-Wettkampfs“. Verfasst hat es der jetzt 77-jährige Extrainer Jenö Csaknady, der einst in den Sechzigern den Clubberern ungarische Raffinesse beizubringen versuchte. Marcel Reif schrieb das Vorwort zu diesem unfreiwillig komischen Elaborat und ließ es nicht nehmen, von sehr edlen Dingen zu schwadronieren: „Nein, der Fußball wird so schnell nicht totzukriegen sein. Aber er könnte in nicht allzu ferner Zukunft ein Fußball sein, der mit der ursprünglichen Idee nur noch wenig gemein hat. Jedenfalls nicht mehr das Spiel ist, das so erfolgreich die Welt erobert hat und das wir lieben.“ Ja, ja, schon gut, Herr Reif . . . und jetzt dazu aufrufen, Premiere World zu ordern, und die Familie, die „Keimzelle unserer Gesellschaft“ (Edmund Stoiber u. a.), zerstören . . . Was ist der Mensch für ein Mängelwesen! RAINER MORITZ

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