: Ja zum Parteiverbot
1998 wurde die türkische Wohlfahrtspartei verboten. Jetzt hat der Europäische Menschenrechts-Gerichtshof die Klage dagegen abgewiesen
von CHRISTIAN RATH
Das türkische Verständnis von Demokratie scheint doch Europa-kompatibel zu sein. Gestern hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass die 1998 erfolgte Auflösung der islamistischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) nicht gegen europäisches Recht verstößt. Die Entscheidung fiel mit der denkbar knappen Mehrheit von vier zu drei Richterstimmen.
Die Auflösung der Refah-Partei von Necmettin Erbakan hatte in Europa großes Aufsehen erregt, da die Islamisten mit 4,3 Millionen Mitgliedern, 158 Parlamentssitzen und einem Wahlergebnis von knapp 22 Prozent immerhin die stärkste Partei der Türkei waren. Zum Zeitpunkt, als das Verbotsverfahren eingeleitet wurde, saß die Wohlfahrtspartei sogar in der Regierung, wobei Erbakan als Premierminister fungierte. Begründet wurde das Verbot mit angeblichen Aktivitäten zum „Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung“. Angeblich bedrohte die Wohlfahrtspartei den „säkularen“ Charakter des Staates und verfolgte die Einführung des islamischen Rechts.
Hiergegen hatten die Partei, Erbakan und zwei weitere Spitzenpolitiker, gegen die ein fünfjähriges Politikverbot verhängt worden war, in Straßburg geklagt. Das Parteiverbot verstoße gegen die in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltene Garantie der „Vereinigungsfreiheit“. Der Klage wurden gute Chancen eingeräumt. Immerhin war die Türkei bei den drei zuvor überprüften Parteiverboten jedesmal vom Gericht des Europarats verurteilt worden, weil eine solche Maßnahme „in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig“ sei.
Im Fall der Wohlfahrtspartei entschied die Mehrheit des Gerichts unter dem französischen Kammerpräsidenten Jean-Paul Costa nun anders. Sie sahen das Parteiverbot als zulässig an, weil die Islamisten bei mehreren Gelegenheiten die Einführung eines pluralistischen Rechtssystems gefordert hatten. Damit hätte die Scharia, das islamische Recht, für alle gegolten, die nach ihr leben wollen. Die Scharia aber, so die Richtermehrheit, verstoße nicht nur gegen die Werte der türkischen Verfassung, sondern auch die der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Dies bestritt auch die Minderheitsmeinung nicht, der die Richter aus England, Zypern und Österreich angehörten. Sie argumentierten jedoch, dass die fraglichen Äußerungen von Erbakan schon einige Jahre vor dem Verbotsverfahren gefallen waren und die Wohlfahrtspartei in ihrer Regierungszeit keinerlei Schritte zur Einführung der Scharia unternahm. Generell kritisierte die Richterminderheit, dass sich das Verbot weder auf die Statuten noch auf das Programm der Refah-Partei stützen konnte, sondern lediglich Äußerungen von Einzelpersonen herangezogen wurden. Die Minderheit hielt daher ein Parteiverbot auch in diesem Fall für „unverhältnismäßig“.
Die Entscheidung dürfte großen Einfluss auf die türkische Innenpolitik haben. Erst vor wenigen Wochen war auch die Nachfolgerin der Refah, die Tugendpartei (Fazilet Partisi), vom türkischen Verfassungsgericht verboten worden. In der Türkei selbst galt die Entscheidung überwiegend als nicht zeitgemäß. Sogar der Chef des Verfassungsgerichts, Mustafa Bumin, hatte eine schnelle Änderung von Verfassung und Parteiengesetz angemahnt.
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