: Balkon überm Todesstreifen
Dürre Steppe Niemandsland: Bis heute hat sich die Schwedter Straße in Prenzlauer Berg zwischen Mauerpark und Behmbrücke noch nicht von der Mauer erholt, die heute vor 40 Jahren gebaut wurde
von VERA VOGT
Wenn man in Berlin lebt, bekommt man häufiger Besuch von Freunden und Verwandten als anderswo. Man läuft immer wieder die gleichen Routen mit verschiedenen Gästen ab und macht dadurch eine Langzeitbeobachtung der Stadt, guckt, wie weit Bauvorhaben gediehen und welche neuen Pläne vor verbliebenen Freiflächen, Baugruben und sanierungsbedürftigen Gebäuden angeschlagen sind. Allmählich ist man auch den Fragen gewachsen, die der Besuch hier und da stellt, anders als in der ersten Nachwende-Bauphase, in der die ganze Stadt im Takt der Presslufthammer zitterte und man allein beim Zigarettenholen zuweilen drei neue Baustellen entdecken konnte.
Die Auswirkungen des jahrelangen unermüdlichen Umpflügens der Stadt verdeutlichen sich mir vor allem in der Frage, die meine Besucher seit einiger Zeit am häufigsten stellen. Sie fragen, ob sie nun gerade im Westen oder im Osten seien. Ich sage es ihnen. Sie nicken gleichmütig und stellen nach zehn weiteren Laufminuten erneut die Frage. So geht es in einem fort. Viele, die die Entwicklungen nicht mitverfolgt haben, können einen sanierten Plattenbau als solchen nicht mehr identifizieren, ganz zu schweigen von den kleinen Hints, die einem f6-Zigaretten im Automaten liefern oder Dönerbuden, hinter deren Scheiben sich triefende Broiler drehen.
Der einzige Ort, wo mich keiner meiner Besucher fragt, wo Ost und wo West liegt, ist der vergessene Abschnitt der Schwedter Straße, der sich zwischen Mauerpark und der unvollendeten Behmbrücke befindet. In diesem Winkel, den kaum jemand kennt und ohne Verspätung zu erreichen vermag, habe ich kürzlich eine Wohnung bezogen. Die Häuserreihe liegt direkt am Mauerstreifen, einer dürren Steppe, deren Vegetation sich von Zäunen, Gräben und Grenzsoldaten noch lange nicht erholt hat.
In dieser Gegend in Prenzlauer Berg haben die Sanierungsarbeiten spät und spärlich begonnen. Die meisten Hausfassaden sind noch von Schrapnell und Bombensplittern zerschunden. Noch immer wird größtenteils mit Kohle geheizt. Brandmauern säumen die Ränder des Stadtteils. Der Spätkaufverkäufer erweist hier seinem durchgesessenen Ostmobiliar die Treue bis an die schmerzlichen Grenzen der Verwertbarkeit. Laden und Wohnstube gehen ineinander über.
Der nächste Supermarkt liegt mindestens 15 Laufminuten entfernt. Die nächsten Stationen des öffentlichen Nahverkehrs auch. Das führt übrigens dazu, dass das Geld, das man durch günstige Mieten einspart, schnell auf Taxifahrten umgelegt ist.
Vor 1989 war die Schwedter Straße auf dem Abschnitt, wo ich wohne, Grenzgebiet und niemandem öffentlich zugänglich. Somit konnten die Bewohner die Eingangstüren ihrer Häuser nicht benutzen. Die wurden im Zuge des Mauerbaus zubetoniert. Die Mieter gelangten über die Innenhöfe und Nachbareingänge zu ihren Wohnungen. Alle Straßen, die auf die Schwedter Straße zuführten, endeten mit einer Mauer, die zwischen den sich gegenüber liegenden Eckhäusern vor dem Grenzstreifen gebaut wurde.
Inzwischen ist die Schwedter Straße wieder recht belebt. Von dem Balkon meiner Wohnung aus höre ich Ehestreit en passant oder Fragmente über süße Jungs und Sonderangebote, die sich die unter mir Vorübergehenden erzählen.
Ein bisschen aberwitzig ist die Vorstellung schon, dass noch vor zwölf Jahren Grenzsoldaten unter mir patrouillierten. Mein Balkon schwebte ja überm Todesstreifen. Ich frage mich, warum die Balkons nicht auch zugemauert wurden. Stattdessen konnte man vermutlich die Grenzer mit ihren Maschinengewehren beizeiten über privates Glück und Geld plaudern hören. Andersherum glaube ich nicht, dass hier oben viel gesessen, geredet und sich amüsiert worden ist, wenn man dabei möglicherweise von einem Mauerschützen observiert wurde.
Von einem Nachbarn erfahre ich, dass es von seinem Balkon aus mehrmals Fluchtversuche gegeben hat. Einer Frau ist der Weg von diesem Haus über die Grenze in den Westen gelungen.
Der Teil des Westens, den man von hier aus sieht und schon damals gesehen hat, gehört zum Wedding und hat sich seit Jahrzehnten nicht verändert. Sozialbauklötze ragen in den Himmel, der hier groß und weit ist. Bei näherer Betrachtung beruhen diese Wohnkomplexe auf einem ähnlichen containerartigen Stecksystem wie die Plattenbauten im Osten. Seit ihrer Erbauung in den Siebzigern sind sie nicht saniert worden. Hier kann der Westen niemanden mehr hinterm Ofen hervorlocken. Hier herrscht Leerstand. Über den Hochhäusern sieht man tieffliegende Flugzeuge, die die bunten Balkons fast berühren.
Darunter eine gigantische Schlucht, durch die die S-Bahn donnert. Die verwinkelte Schienenlandschaft soll hier zum drittgrößten Berliner Bahnknotenpunkt, dem Nordkreuz, ausgebaut werden. Bis dahin wird die Behmbrücke, die Ost und West verbinden sollte, halbfertig in der Luft hängen bleiben. Hier ist die Grenze noch nicht ganz unsichtbar geworden. Sie scheint sich eher verlagert zu haben.
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