Film mit zwei Gesichtern

Ein Titel, zwei Filme: Unter dem Namen „Schaut auf diese Stadt“ wurde 1962 in der DDR ein Dokumentarfilm zur Rechtfertigung des Mauerbaus gedreht. In der West-Version des Films werden jedoch komplett andere Inhalte vermittelt

von MATTHIAS STEINLE

Montagabend, 12. November 1962. Der Chefkommentator des DDR-Fernsehens (DFF) Karl-Eduard von Schnitzler ist auf Sendung mit seinem berühmt- berüchtigten „Schwarzen Kanal“. Doch dem „Kanalarbeiter“ fehlt die Ruhe: Ständig rennt er in den Einspielpausen der Filmbeiträge in den Nebenraum, um das Westfernsehen zu verfolgen.

Dort läuft „Schaut auf diese Stadt“, ein Beitrag des Senders Freies Berlin (SFB). „Schaut auf diese Stadt“ – made in West Germany? Handelte es sich nicht um jenen abendfüllenden Dokumentarfilm, mit dem die DDR den 13. August zu rechtfertigen versuchte? Und mit dessen Titel sie – ironisch gewendet – den Aufruf Ernst Reuters wählte („Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“), mit dem der Westberliner Bürgermeisters 1948 gegen die Blockade durch die UdSSR protestierte?

Schutzwall gegen Revanchisten

Auf Beschluss des Politbüros war bei der staatlichen Filmproduktion Defa ein Film in Auftrag gegeben worden, der den Mauerbau als „Schutzwall gegen die unverbesserlichen Revanchisten und Militaristen in Westdeutschland“ rechtfertigen sollte. Das Ergebnis „Schaut auf diese Stadt“ (1962) ging als SED-Mauerlegitimationsfilm in die Geschichte ein.

Angesichts des unpopulären „Bauwerks“, gegen das es in der ostdeutschen Bevölkerung mehr Protest gab als bisher angenommen, löste Regisseur Karl Gass seine Aufgabe gut: Statt beliebigen Bildern einen hassverzerrten Kommentar überzustülpen, wie in vielen Kalten-Kriegs-Filmen der fünfziger Jahre, arbeitet er mit Ironie, der Kommentierung durch Musik und nutzte die Möglichkeiten der Montage. Sperranlagen und Mauer selbst werden nur wenige Sekunden gezeigt, ausführlich hingegen glückliche Menschen im Ostteil („Hauptstadt der DDR“) und Provokateure sowie Soldaten im Westteil („Agentenzentrale“) Berlins.

Pünktlich zum Jahrestag des Mauerbaus gelangte der Film 1962 in die Kinos. Der massenwirksamen Fernsehausstrahlung des Defa-Films wenig später kam jedoch der Westen zuvor, was die Aufregung Schnitzlers, der den Kommentar zum Gass-Film verfasst hatte, erklärt: Die ARD zeigte am Tag vor der DFF-Ausstrahlung in ihrer Reihe „Diesseits und jenseits der Zonengrenze“ einen Film unter dem Titel „Schaut auf diese Stadt“, der auf den Bildern und Tönen des Originals von Gass/Schnitzler basierte.

Die Kopie hatte der SFB-Journalist Robert Röntgen vom Bundespresseamt erhalten. Röntgens Film beginnt mit dem Anfang des DDR-Originals, ergänzt um den Off- Kommentar, dass der Defa-Film produziert wurde, um „den Eindruck zu verwischen, den die nackten, hässlichen Steine in Berlin, ihre Folgen und ihre Opfer in der ganzen Welt gemacht haben“.

Ideologisch korrigiert

Im Folgenden wird der Gass- Film Szene für Szene untersucht und Röntgen weist ihm akribisch seine ideologisch gewollten Auslassungen, Verzerrungen und Verdrehungen nach. Dabei vermeidet er antikommunistische Klischees im Stil seines Kollegens Matthias Walden, der keine Möglichkeit ausließ, die SED als „rote Nazis“ anzuprangern. Ernst und mit zurückhaltender Empörung über die Verfälschung der Fakten demonstriert Röntgen die „Taschenspielertricks“ des Mauerrechtfertigungsfilms: Zum Beispiel zeigt das DDR-Original Straßennamen in Westberlin wie Clayallee und Straße des 17. Juni, um den „revanchistischen Geist“ der angeblich fremdbestimmten und überfremdeten „Frontstadt“ vorzuführen. Dagegen setzt Röntgen Bilder von der in Westberlin gelegenen Karl-Marx-Straße sowie der im Ostteil von Stalin- in Karl- Marx-Allee umgetauften Renommierstraße, den Schnitzler-Kommentar des Originals ironisch wiederholend: „Wie hieß es doch: ‚Straßennamen sind Bekenntnisse!‘ “

Die überzeugendste Demonstration liefert der Westberliner Journalist, indem er im Defa-Film zitierte westdeutsche Zeitungsartikel näher beleuchtet. Sätze wie „Berlin ist einen Krieg wert“ sollen die westdeutsche Aggression belegen. Im Archiv entdeckte Röntgen, dass es sich bei der Zeitung, aus der das Zitat stammt, um die bereits 1949 eingestellte Der Sozialdemokrat handelt, der Text also aus Zeiten der Berlin-Blockade stammt. So stellt journalistische Recherche die DDR-Propaganda bloß, was Schnitzlers Beunruhigung am Vorabend der Ausstrahlung „seiner“ Version verständlich macht.

Schnitzlers Reaktion, von der ungarische Kameraleute Robert Röntgen berichteten, ist ein anschauliches Beispiel für den gemeinsamen Kommunikationsraum im geteilten Deutschland, der dank des Rundfunks auch nach der totalen physischen Trennung durch die Mauer fortbestand. Für die Ausstrahlung des Defa-Originals im DDR-Fernsehen nach der ARD-Sendung hatte dies die Konsequenz, dass die inkriminierte Einstellung mit dem Zeitungsartikel fehlte.

Bilder-Pingpong

Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges ist dieses „Bilder-Pingpong“ charakteristisch für den Umgang mit dem Mangel an Bildern aus dem anderen Teil Deutschlands. Sowohl Bundesrepublik als auch DDR benutzten „entwendete“ Aufnahmen der Gegenseite, um diese ideologisch „richtig“ interpretiert der Bevölkerung erneut zu zeigen – Schnitzler hielt das Prinzip bis zum Fall der Mauer durch. Der Forderung Reuters entsprechend schaute die Welt nach dem 13. August 1961 auf Berlin, jedoch währte der Sensationswert der Mauer nicht lange, bald wurde sie – von Westen aus gesehen – zu einer Touristenattraktion.

Der Gass-Film darf mit seinen zu Beethovens Fünfter aus der Kaserne rollenden Panzern in kaum einer Dokumentation über den Mauerbau fehlen, der Röntgen-Film hingegen ist in Vergessenheit geraten – das flüchtige Bildmedium Fernsehen hat ein kurzes Gedächtnis, und differenzierende Positionen sind selten medientauglich. Röntgens Schlusskommentar verweist auf die unerwarteten Ereignisse fast drei Jahrzehnte später, als die Welt erneut auf (Ost-)Berlin schaute, wo die demonstrierende Bevölkerung Schnitzler wahlweise in die Muppets-Show oder in den Tagebau wünschte: „Wer auf diese Stadt schaut, kann aber gleichzeitig beobachten, dass hier die Entscheidung darüber fällt, wem die Zukunft gehört. Dem Freiheitsanspruch des Westens oder dem Herrschaftsanspruch des Ostens. Und deswegen gilt das Wort Ernst Reuters heute noch genauso wie im Jahr 1948.“