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Wie das Grammofon in die tansanische Savanne kam

Ein Abend abseits städtischer Zivilisation: Vorgeführt werden den Besuchern Filme von Ludwig und Margit Kohl-Larsen, gedreht in den Dreißigerjahren. Zu sehen sind auch Verwandte und Vorfahren der Kinobesucher – und viele vergessene und womöglich inzwischen unwichtige Handwerkstechniken. Abflug aus Deutschland: Eine Zeitreise zu den letzten Jägern und Sammlerinnen in die Dornbuschsteppe Tansanias

von ANNETTE WAGNER

Pfeil und Bogen liegen achtlos im Sand der Savanne. Gebannt sitzen die Jäger und Sammlerinnen inmitten der Wildnis und starren auf die Leinwand, die im Abendwind schaukelt. Die Hadzabe verfolgen die Schatten ihrer Ahnen, feuern sie an, als stünden sie leibhaftig vor ihnen. Eine junge Frau im Film sammelt Straußeneier, die alte Abeya erkennt ihre Mutter wieder. „Hoch mit dem Tragetuch, Mutter Duwa!“, ruft sie und schüttelt ermunternd die Faust. Eine Kinonacht in der Dornbuschsteppe Tansanias: Staunen über Tiere, die es im Busch heute nicht mehr gibt; Gelächter, aber auch Tränen angesichts von Vorfahren, die nicht mehr leben.

In dieser Nacht kommen die Erinnerungen zurück, angereist in den Transportkisten eines Filmteams vom Südwestrundfunk. Alte ethnologische Filme kehren in den tansanischen Busch zurück, dorthin, wo sie vor über sechzig Jahren entstanden: Der deutsche Arzt und Forschungsreisende Ludwig Kohl-Larsen hatte den Hadzabe zwischen 1934 und 1939 mit Film- und Fotokamera nachgespürt und ihren Alltag dokumentiert. Bilder von gestern, zu Besuch in der Gegenwart: Hat sich das Leben der letzten Wildbeuter Tansanias verändert?

Wer dieser Tage aus Deutschland dorthin fährt, glaubt sich zunächst auf einer Zeitreise. Viele Hadzabe leben immer noch wie unser aller Vorfahren vor tausenden von Jahren: Sie wohnen heute hier, morgen dort unter freiem Himmel. Mit Pfeil und Bogen streifen die Männer durch den Busch, jagen Antilopen, Paviane, Perlhühner. Die Frauen und Kinder sammeln alles, was die karge Natur zu bieten hat: verschiedene Beeren- und Honigsorten, die Früchte des Affenbrotbaums. Sie graben auch Wurzeln aus dem steinigen Boden – mit einem hölzernen Grabstock. Man nennt ihn „die Waffe der Frau“.

Wie lebten die ersten Menschen? Voll Neugier begab sich der Forscher und Reiseschriftsteller Kohl-Larsen Mitte der Dreißigerjahre zu den ursprünglich lebenden Völkern in den ostafrikanischen Grabenbruch. Kohl-Larsen reiste nicht in offiziellem Auftrag der einstigen Kolonialmacht, sondern aus privater Neugier. Ihn interessierte der Alltag der Menschen. Im Februar 1939 stieß der Ethnologe mit seiner Frau Margit schließlich am Lemagrut-Fluss auf den Oberkiefer eines „Affenmenschen“: „Der Mann, der Lucys Ahnen fand“ heißt deshalb Kohl-Larsens Biografie.

Doch tatsächlich interessierten die lebenden Wildbeuter den Forscher zunächst mehr als die versteinerten Spuren ihrer Vorfahren. Wer mit Kohl-Larsens Aufnahmen im Gepäck heute durch die Dornbuschsteppe reist, stolpert mitten hinein in zwiespältige Gefühle, schwankt zwischen „Hier ist die Zeit stehen geblieben!“ und „Nichts ist mehr, wie es war!“. Das Leben im Busch hat sich zweifellos verändert: Auf einem der historischen Fotos nagen zwei Hadza-Frauen an gebratenen Nashornrippen, fast zu groß, um sie mit zwei Händen halten zu können. Im Jahr 2001 gibt es keine Nashörner mehr im Streifgebiet der Hadzabe. Die letzten zwölf der Region leben im Ngoro-Ngoro-Wildpark, fünfzig Kilometer entfernt.

Dann wieder scheint der Alltag im Busch wie einst: Jeden Tag sitzen die Jäger in den Kiderubergen ernsthaft unterm Schattenbaum und schnitzen und hämmern für jedes Tier einen spezifischen Pfeil. Kochen aus dem Pflanzensaft der Wüstenrose das tödliche Pfeilgift: Kada. Ihr Feuer machen sie, wie Ischoko, der Sonnengott, sie es einst gelehrt haben soll: mit einem Holzstab und mit bloßen Händen. Als das Geschoss fertig ist, freut sich der alte Kampala: „Perfekt für eine Giraffe.“ Aber im Streifgebiet der Hadzabe gibt es gar keine Giraffen mehr.

Kino im Busch, Bilder von gestern: Im historischen Film füllen nackte Hadza-Kinder an einem Fluss Wasser in große Straußeneier und tragen es in den dichten Busch davon. Heute gibt es keine Strauße mehr in der Region. Man füllt das Wasser in alte Motor- und Speiseölkanister, die Touristen oder Forscher liegen lassen. Und weite Teile des einstigen Stammesgebiets der Hadzabe sind kahl und staubig. Und doch: Wer die Hadza-Jungen in den Kiderubergen, wenige Stunden entfernt, bei ihren Schießübungen mit Pfeil und Bogen am Rande des Lagers beobachtet, glaubt sich zurückversetzt in Kohl-Larsens Filme: Hier werden „die Waffen der Männer“ erprobt, Vorbereitung aufs Jägerdasein, spielerisch und doch mit großem Ernst.

Die Zeit steht still. Aber nur kurz. Denn schon die Kindertage in der Dornbuschsteppe sind heutzutage wechselvoll. Zwanzig Kilometer weiter, in Endamagah, drücken die älteren Wildbeuterkinder in blauer Uniform mit adretten weißen Kragen die Schulbank. In Tansania herrscht Schulpflicht: auch für Hadza-Kinder. Mit Lastwagen werden sie zu Schuljahresbeginn aus dem Busch ins Internat geholt, die Trennung von der Familie geht dabei nicht immer ohne Tränen ab. Nur in den Schulferien dürfen sie für einen Monat nach Hause.

Sieben Jahre Schule, sieben Jahre fester Tagesrhythmus und ein festes Dach überm Kopf – und dann zurück in den Busch? Welche Perspektive haben die Hadza-Kinder danach? In den letzten vierzig Jahren konnten gerade zwanzig von ihnen eine weiterführende Schule besuchen. Mancher Teenager, so der britische Anthropologe Nicholas Blurton-Jones, der die Hadzabe schon lange begleitet und erforscht, sitzt nach seinem Schulabgang orientierungslos im Schatten eines Baums in der Savanne.

Die Hadzabe wollen mobile Grundschulen im Busch, wandernde Lehrer für ihre Kinder – so hat es ihr Vertreter Julius Madulu im Juli 2000 vor den Vereinten Nationen in Genf gefordert. Damit ihre Kinder parallel zur Ausbildung weiterhin die traditionellen Fertigkeiten von ihren Vätern und Müttern lernen können. Doch manche Technik beherrschen heute nicht mal mehr die Eltern: Aus Kohl-Larsens Film lernten die kleinen Jäger und Sammlerinnen im Sommer 2000, wie man Sandalen aus Antilopenhaut schneidet – anstatt auf Gummireifenschuhen zu wandeln.

Wer einen Sommer mit den Hadzabe verbringt, spürt schnell: Dies ist keine Zeitreise zurück, sondern ein Stop-and-go-Erlebnis, ein erstaunliches Nebeneinander von ursprünglichem Lebensentwurf und Moderne. Die Halsketten der Wildbeuter scheinen symbolisch für diese neue Zeit: Leuchtend bunte Plastikperlen prangen neben schlichten erdfarbenen Aströhrchen. Den traditionellen Schmuck gibt ihnen nach wie vor die Natur – der moderne entsteht aus Zivilisationsmüll, den die Sammlerinnen über dem Feuer erhitzen und formen: aus Deckeln von Wasserflaschen, Cremedöschen, Plastiktüten, die sich in den Dornbüschen verfangen, wenn der strenge Ostwind durch die erodierte Landschaft fegt.

Die Hadzabe haben die Zivilisation nicht eingeladen, sie ist zu ihnen gekommen, vor allem im nordöstlichen Teil des Stammesgebiets, wo Kohl-Larsen einst eine „Parklandschaft“ vorfand. Die Zivilisation ist da: in Gestalt von großflächigen Zwiebelplantagen, die den Wildbeutern Land und Wasser wegnehmen; in Gestalt von festen Ansiedlungen inmitten des Nomadenlandes, wo nun die Landarbeiter und ihre Familien wohnen. Diese Suahelis, wie Hadzabe die anderen Afrikaner nennen, holzen auch Bäume und Sträucher ab, für den Häuserbau und als Brennholz. Und ihre lärmigen Maismühlen und Lastwagen vertreiben die Wildtiere aus der Region.

Mehrfach hat die tansanische Regierung unter Julius Nyerere versucht, auch die Hadzabe fest anzusiedeln und zum Ackerbau zu zwingen. Mitte der Sechzigerjahre gründete das unabhängig gewordene Tansania die Dörfer Yaeda Chini und Monguli, 1988 Mongo wa Mono. In keiner der Siedlungen sind die Hadzabe lange geblieben. Sie wollen weiterhin von und mit der Natur leben wie ihre Vorfahren auch; sie wollen ihren nomadischen Lebensstil bewahren.

Die Zivilisation kommt auch in Gestalt der Weißen, der Forscher aus den USA und aus Europa. Die kommen zum ursprünglichsten Volk, das heute auf der Erdkugel lebt, mit den uralten Fragen Kohl-Larsens: Wo liegen unsere Wurzeln? Aber sie kommen auch mit moderner Verunsicherung: Vielleicht können wir aus den alten Lebensentwürfen lernen? Und so untersuchen die Wissenschaftler die gesunden Ernährungsgewohnheiten der Hadzabe, analysieren ihr Menü aus Beeren, Wurzeln und Affenbrotbaumfrüchten.

Die ForscherInnen studieren auch die Menopause der Hadza-Frauen – so wie die amerikanische Anthropologin Kristen Hawkes, die 1997 zu dem Schluss kam, dass sammelnde Großmütter möglicherweise schon immer mehr zum Überleben der Jäger- und Sammlergesellschaften beigetragen haben als die jagenden Männer. Ende eines Mythos? Die frühe Unfruchtbarkeit der Menschenfrauen, so Hawkes, war evolutionsbiologisch entscheidend: Wenn Großmütter jenseits der Wechseljahre die Enkel versorgen, können die jungen Hadza-Frauen sich ungestört der Fortpflanzung widmen – und die Erhaltung der Art ist garantiert.

Die so genannte Zivilisation kommt – nicht zuletzt in Gestalt der Safaritouristen, die auf ihrem Weg zu den großen Tierparks im Ngoro-Ngoro-Krater und der Serengeti neuerdings gern einen Abstecher zu den letzten „Wilden“ Tansanias machen. Die Hadzabe erleben ihre Popularität mit gemischten Gefühlen: Da man innerhalb Tansanias verächtlich auf die unzivilisierten Landsleute herabblickt, fühlen die Wildbeuter sich anerkannt, „wenn Weiße in Eisenvögeln von so weit herkommen, um unser Leben kennen zu lernen“. Sagt der junge Jäger Adam.

Man freut sich über das rege Interesse – und auch über Tabak, Kleider und Geldgeschenke. Doch manchmal haben die Hadzabe keine Lust, für Geld zu tanzen. Weil es zu Streit führt in Gruppen, die früher keinen Besitz kannten, die fraglos alles teilten: alle Tiere und alle Früchte des Buschs. Manchmal würden sie lieber ungebunden weiterziehen, so wie früher, statt tagelang auf die nächste Gelegenheit zu folkloristischen Darbietungen zu warten – für die man sich neuerdings sogar kostümiert. Vor zehn, fünfzehn Jahren trugen fast alle Wildbeuter in der Eyasi-Region moderne Altkleider, die sie auf fliegenden Märkten in den Siedlungen kauften. Und sie waren stolz auf diesen Fortschritt. Heute trägt man in den Camps nahe dem Dorf Mangola häufig wieder traditionelles Leder und gern auch Fell – Pavianhüte und Wildkatzenschwänze als Haarreif –, um wild und ursprünglich zu erscheinen und möglichst viele Besucher anzulocken.

Ob Tourist, Forscher oder Filmemacherin: jeder Besucher, jeder Eindringling hinterlässt Spuren im bereisten Land. Schon Ludwig Kohl-Larsen hat die Folgen seiner Forschertätigkeit mit Bedenken gesehen: „Jeder Tag, der geht, wird eine Bresche in ihre Eigenart legen, wenn auch zunächst nur äußerlich, indem das Hemd eines Arbeiters oder ein paar Hosen sich auf den kräftigen Körper der Tindiga legen.“

Und auch heute fühlt man sich hin- und hergerissen zwischen Faszination und Unbehagen, wenn man – ausgestattet mit allen modernen Hilfsgütern, vom Funksprechgerät bis zum Malariamedikament – zu Menschen reist, die so schlicht und archaisch leben wie die Hadzabe. Und (be)sucht sie letztlich doch – weil die Neugier größer ist als die Scheu.

Auch Margit Kohl-Larsen brachte 1937 westliche Kulturgüter mit zu den „Wilden“: Auf einem Grammofon spielte sie den Hadzabe damals deutsche Musik vor. Selemani, ein uralter Jäger, der letzten Sommer verstarb, war dabei: „Die weiße Mama hatte diesen Apparat, der sprach und sang, obwohl kein Mensch zu sehen war.“ Unter den mitgebrachten Platten müssen auch Militärmärsche gewesen sein, denn Selemani imitierte vergnügt zackige Rhythmen und Trommeln, als er das Foto betrachtete.

Alt und neu vermischen sich im Leben der Hadzabe: Ihre sommerlichen Lagerstätten sind immer noch ein Halbrund aus Dornzweigen und Buschgras, an dessen Eingang nachts ein Feuer brennt, zum Schutz vor Löwen und Hyänen. In der Regenzeit ziehen sie sich nach wie vor in bienenkorbartige Grashütten oder Höhlen zurück. Doch die Wildbeuter von heute tauschen bei einem fliegenden Händler auf dem Fahrrad den begehrten Honig vom Affenbrotbaum nicht nur gegen Metall für ihre Pfeilspitzen, sondern durchaus auch mal gegen ein Transistorradio. Das dudelt dann so lange unterm Männerbaum, bis die Batterien leer sind. Danach wird die Musik in der Savanne wieder auf einem Saiteninstrument gemacht: selbst gebaut aus einer Kalebasse und einem Holzstab, die Saiten aus Antilopendärmen.

Selbst in dieser entlegenen Region ist die ursprüngliche Lebensform der Wildbeuter gefährdet: Immer mehr benachbarte Hirten kommen mit ihren Herden ins Stammesgebiet der Hadzabe. Die Datoga holzen den Busch ab: für Brennholz und für Gehege, die ihre Tiere gegen nächtlich umherstreifende Leoparden und Löwen schützen sollen. Ihre Rinder, Ziegen und Schafe verschmutzen die wenigen Wasserlöcher. So müssen die Antilopen und Warzenschweine weiterziehen – und die Jäger und ihre Familien auch.

Aber auch die Datoga sind in Not; deshalb gibt es in diesem Landkonflikt keine Guten und keine Bösen. Dort, wo sie einst ihre Tiere weideten, sind Dörfer und Plantagen entstanden, ist ein anderes Hirtenvolk eingedrungen. Und diese Barabaig wiederum wurden aus dem Nordosten vertrieben, wo man mit kanadischem Entwicklungshilfegeld riesige Weizenfelder angelegt hat. Nomadenland scheint Niemandsland in Tansania.

Letztendlich werden die Touristen und die Wildtiere in den Nationalparks die Gewinner, die ursprünglichen Bewohner des Landes aber die Verlierer dieses Zwangs zur Stammeswanderung sein. Sind die Tage der Hadzabe gezählt? Das fragten sich schon vor sechzig Jahren Margit und Ludwig Kohl-Larsen. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Wildbeuter „bald schon“ verschwunden sein würden.

ANNETTE WAGNER, 37, lebt in Stuttgart und arbeitet seit fünfzehn Jahren als Journalistin vor allem für den Südwestrundfunk. Sie hat sich für ihre Filme (und diesen Text) mehrere Wochen in der Savanne Tansanias aufgehalten

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