„Reparationen heilen keine Wunden“

Der deutschstämmige Kalifornier Glen Lindenstadt dreht derzeit einen Film über frühere Berliner Juden – manche von ihnen haben für das Jüdische Museum Exponate gestiftet. Er erinnert sich an seine deutsch-jüdische Familie

taz: Herr Lindenstadt, Sie drehen derzeit einen Dokumentarfilm über frühere Berliner Juden: Manche stifteten Exponate für das Jüdische Museum. Warum findet die Eröffnung weltweit so viel Interesse?

Glen Lindenstadt: Ein Volk, eine Kultur, eine Gemeinschaft, die jahrhundertelang in Deutschland lebte, wurde fast ausradiert vom deutschen Boden. Durch das Museum können die Juden wieder an ihr Erbe in Deutschland anknüpfen. Die Juden haben die deutsche Kultur und Gesellschaft so bereichert! Mark Twain hat gesagt: „Die Juden sind die Hefe im Teig.“ Der Völkermord an den Juden in der deutschen Gesellschaft ist eine üble Narbe in der Geschichte der Menschheit. Das ist ein so brutales und unverstehbares Geschehen, dass noch heute die Menschen es nicht begreifen können, wie so ein schreckliches Phänomen wie der Holocaust sich überhaupt ereignen konnte. Die Wunden der Schoah sind noch lange nicht verheilt. Vielleicht werden die Deutschen mit Stolz und Verwunderung auf die Beiträge ihrer jüdsichen Brüder und Schwestern zur deutschen Kultur und Gesellschaft schauen. Mein Onkel, der Regisseur Ernst Lubitsch, emigrierte in den Zwanzigern von Berlin in die USA. Er war der erste Regisseur, der je ein Filmstudio leitete: Paramount. Auf dem Gelände dort ist ein Gebäude nach ihm benannt, in Berlin und Babelsberg, wo er seine Arbeit begann, weder ein Gebäude noch eine Straße.

Meine Eltern haben die Nazizeit versteckt in Berlin überlebt. Vor der Nazizeit lebten und fühlten sie sich als deutsche Bürger. Nach dem Krieg sind sie nach Amerika ausgewandert. Ich bin dort aufgewachsen, aber meine Muttersprache war Deutsch. In Amerika haben wir in deutschen Spezialitätengeschäften eingekauft. Die meisten Freunde meiner Eltern waren Deutsche. Sie sprechen Deutsch untereinander. Viele amerikanische Kinder haben zu mir gesagt: „Heil Hitler, ihr Nazis, geht wieder nach Deutschland.“ Ich glaube, wer nicht im KZ leiden musste, hat weniger starke antideutsche Gefühle. Manche Überlebende kommen wegen der Eröffnung des Museums das erste Mal zurück nach Deutschland und nach Berlin.

Fällt Ihnen das auch schwer?

Natürlich. Der Holocaust ist eine Wunde in meiner Psyche. Meine Vorfahren waren Opfer des Völkermordes. Er ist tief eingegraben in meine genetische Erinnerung. Der Grund, warum ich heute hier bin, ist mein kleiner Sohn – ein wunderbares Wesen. Er ist zweieinhalb Jahre alt. Ich will sicherstellen, dass er nie die Erfahrung von Hass und Rassismus machen muss, nur weil er ist, wie er ist. Aber dennoch liebe ich Berlin. Seit ich zwei bin, seit 40 Jahren, komme ich hierher. Mein Großvater war als Soldat in der Wehrmacht beteiligt an der Invasion in Polen 1939. Er wurde aus der Armee entlassen, weil er mit einer Jüdin verheiratet war. Dann musste er als Zwangsarbeiter in einer Waffenfabrik arbeiten. Er hatte die Möglichkeit, sich von seiner Frau zu trennen, aber er wusste, dass dann sie und ihre vier Kinder ins KZ gekommen wären. Als die Sowjets Berlin eroberten wurden er und sein 15-jähriger Sohn, mein Onkel, inhaftiert und nach Russland gebracht, wo sie vier Jahre blieben. Meine Familie hat viel gelitten, als Juden und als Deutsche.

Angesichts der großen Feier könnte man fast glauben, hier werde ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen – wie empfinden Sie das?

Die Menschen müssen zusammenkommen, um Wunden zu heilen und sich zu versöhnen. Vielleicht kann das Museum ein Forum dafür sein. Das habe ich dem Museum schon vorgeschlagen. Reparationen heilen die Wunden der Geschichte nicht. Ich habe mal zufällig eine junge deutsche Architektin getroffen, die eine Doktorarbeit über das KZ Sachsenhausen geschrieben hat: Sie hat noch nie mit jemandem von dieser KZ-Generation gesprochen: weder mit einem Holocaust-Überlebenden noch mit einem früheren KZ-Wächter. Sie hat noch nie einen Juden in Deutschland getroffen.

Freuen Sie sich über die Eröffnung des Jüdischen Museums?

Ja und nein. Es ist traurig, dass es ein Museum braucht, um jüdisches Leben in Deutschland zu begreifen. Man braucht nur Museen, um Dinge zu zeigen, die es früher einmal gab und die nicht mehr existieren. Für mich ist der folgende Satz meine Hoffnung für Juden und ihre deutschen Brüder und Schwestern: „Wir müssen vor allem um unserer selbst willen vergeben, damit wir nicht länger die Last der Resentiments tragen. Zu vergeben aber bedeutet nicht, Ungerechtigkeiten der Zukunft zu akzeptieren.“

INTERVIEW: PHILIPP GESSLER

Glen Lindenstadt (42) ist Dokumentarfilmer in Kalifornien.