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Scharpings neue Auffanglinie

Der Minister gibt sich Generalabsolution: Aus Sicherheitsgründen dürfe er „eigentlich immer eine Regierungsmaschine“ nehmen. Heißt: Er muss einzelne Flüge eigentlich nicht begründen. Eigentlich

BERLIN taz ■ Der Verteidigungsminister hat eine neue Rückzugslinie ausgemacht. Oder ist das Vorwärtsverteidung? In jedem Fall ließ Rudolf Scharping gestern so eifrig an seiner Selbstverteidigung basteln, dass sogar die eigenen Genossen Schwierigkeiten hatten, ihm zu folgen. In der Regierungspressekonferenz erklärte Joachim Cholin, Sprecher des Ministers, dieser dürfe auf Grund seiner Gefährdungsstufe jederzeit mit der Flugbereitschaft fliegen. Aus Gründen des öffentlichen Ansehens geschehe dies aber nicht immer. Diese Interpretation der Richtlinien hat auch Scharping selbst schon in einem Interview mit der Illustrierten Bunte am Donnerstag vertreten: „Übrigens müsste ich wegen meiner Sicherheitsstufe eigentlich immer eine Regierungsmaschine nehmen. Das tue ich nicht, weil ich den Vorwurf gar nicht erst entstehen lassen will, dass ich für private Zwecke öffentliche Mittel beanspruche.“ Die Richtlinien der Flugbereitschaft sehen jedoch keine Privilegierung aufgrund der Sicherheitsstufe vor (siehe nebenstehender Text). Cholin begründete Scharpings Praxis mit Gewohnheitsrecht, das bereits unter früheren Regierungen gegolten habe.

Die SPD-Fraktion wollte sich diese Darstellung nicht zu eigen machen. „Wir machen keine öffentliche Interpretation der Richtlinien“, sagte ein Fraktionssprecher der taz. Für Kanzler Schröder wie SPD-Generalsekretär Müntefering dürfte die Einlassung des Ministers einigermaßen überraschend kommen. Beide Politiker hatten in den vergangenen Tagen deutlich gemacht, dass sie den angeschlagenen Kollegen nur solange stützen, wie seine innerdeutschen Flüge „in Ordnung“ seien. Der geplante Auftritt des Ministers am Montag im Verteidigungsausschuss sollte genau dieser Überprüfung dienen. Scharping erteilte sich nun mit seiner Rechtfertigung Generalabsolution – nach dieser Lesart ist eine Unterscheidung in korrekte oder unkorrekte Flüge unmöglich.

Offensichtlich ist die Verteidigung des Ministers selbst innerhalb des eigenen Lagers nicht organisiert. So wies SPD-Fraktionschef Peter Struck am Freitagmorgen Berichte der Nachrichtenagentur dpa zurück, Scharping sei seit Beginn seiner Beziehung mit Kristina Gräfin Pilati vor einem Jahr rund 50 Mal mit der Luftwaffe zu ihrem Wohnort Frankfurt geflogen. „Ich nehme diese Meldungen überhaupt nicht ernst“, sagte Struck. Keine Stunde später bestätigte Scharpings Sprecher die Größenordnung. Er kenne zwar keine exakte Zahl, aber bei 52 Wochenenden im Jahr „dürften auch 50 Flüge kein Problem sein“.

Immer häufiger fehlt damit der Verteidigungslinie der Regierung die innere Schlüssigkeit. Unklar blieb gestern, ob der Grund dafür eine um sich greifende allgemeine Verwirrung in der Regierung ist – oder politisches Kalkül. Nach dieser Version wartet der Bundeskanzler nur darauf, dass Scharping sich selbst endgültig ins Aus bugsiert. Der Politikwissenschaftler Joachim Raschke trat gestern im ZDF der Einschätzung entgegen, Scharping sei für Schröder unverzichtbar: „Er wird überschätzt in seiner Bedeutung für das Funktionieren dieser Regierung.“

Gleichzeitig ist der Wahrheitsgehalt mancher Vorwürfe gegen Scharping schwer nachzuvollziehen. Insbesondere die Nachrichtenagentur dpa zitiert wiederholt aus angeblichen Aufstellungen über Flüge nach Frankfurt, ohne dafür Quellen oder eine vollständige Liste überprüfbarer Belege vorzulegen. So ist bisher ungeklärt, was hinter den 12 Flügen steht, die laut dpa „zweifelhaft“ sein sollen. PATRIK SCHWARZ

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