piwik no script img

Die Lücke im Weltbild

Das World Trade Center war Sinnbild einer bewusst von Sinn gereinigten ökonomischen Formel. Sein 1986 verstorbener Architekt Minoru Yamasaki verband die offiziershafte Treue des perfekten Japaners mit glühendem amerikanischem Patriotismus. Über Manhattans Skyline und ihre Leerstellen

Das World Trade Center war eine Formel, die sich mit Leben gefüllt hat

von ULF ERDMANN ZIEGLER

In der Skyline stehen die Türme nah beieinander wie Cousins und Brüder. Dann, während man über die Brücke fährt, treten sie auseinander wie pedantisch behauene Felsen. Angekommen in der City, ist das Bild eingetauscht gegen kalte Schatten, reine Ladenfronten, die Insignien pompöser Lobbys. Das, zum Beispiel, ist die innerstädtische Skyline Sydneys, vielleicht die attraktivste der Welt, weil die Stadt um eine Förde gebaut ist, mit dutzenden pittoresken Buchten, von deren Rändern man auf die hochgezogene Innenstadt sehen kann. An einem Wintertag, im August, taucht sie nur zögerlich, mit silbernen Vertikalen, aus dem Nebel auf. Am Mittag steht sie da in monolithischer Entschlossenheit unter einem blauen Himmel. Und am Abend fangen die Oberflächen im milden Licht an zu vibrieren, als wäre das Ganze ein Bühnenbild für das Melodrama des modernen Alltags. Es ist auch eines.

Es geschieht häufig, dass das Bild einer Skyline den Namen New Yorks wachruft, auch wenn es eine andere Stadt zeigt. Umgekehrt ist die Skyline New Yorks von unverwechselbarer Gestalt. Dafür sorgen die Wasserwege, der Hudson und der East River, die den nötigen Abstand vorgeben. Von den gegenüberliegenden Ufern in New Jersey auf der einen Seite sowie von Brooklyn und Queens auf der anderen erkennt man den Rasterplan. Wer die Skyline Manhattans täglich vor der Nase hat, hat es entweder nicht auf die Insel geschafft oder ist von ihr geflohen. So wie ihr Bild die Leute anzieht, ist es mit einem Motiv der Furcht unterlegt, der Furcht, nicht bestehen zu können. Die Skyline repräsentiert das Wachstum der Stadtinsel, die nicht in die Breite gehen kann, von der unerbittlichen Seite. Kapital ruft nach Rendite.

New Yorker Wolkenkratzer, befand Yamasaki, haben den enormen Nachteil, dass man sie aus der Nähe nicht richtig sehen kann. Flüchtige Blicke ergeben sich entlang der vertikalen Achsen, der Avenues. Deshalb waren die New Yorker auch nicht eingenommen vom Pan Am Building, das 1963 quer über die Park Avenue gestellt wurde, unter Beteiligung von Walter Gropius. Damit vollendete der internationale Stil zwei Jahrzehnte seiner geschmacklichen Herrschaft. Das World Trade Center, beschloss Yamasaki, sollte einen Ort für Fußgänger haben, eine Plaza, von der aus sich das Gebäude betrachten lasse. So kam es zu der eigenartigen Laienperspektive der wie Streichhölzer schief ins Nichts ragenden Silbertürme.

Es ist nicht das Gesicht eines „Empires“ oder das Hochhaus-Chalet eines Donald Trump

Während der Skyscraper als Wolkenkratzer eingedeutscht worden ist, bleibt die Skyline ein Fremdwort und Rätsel. Das Wort meint aber offenbar ein umfassendes Phänomen, denn es wird nie auf eine Stadt im Plural bemüht. Dabei ist offensichtlich, dass die Hochhauslandschaft keine Märchenidee der Innenstadt ist, so wie die Fußgängerzone. Viele Metropolen haben mindestens zwei Konzentrationen steiler Häuser. In Sydney gibt es unweit der City (man nennt das Zentrum dort wirklich so) auch North Sydney; in Hongkong steht die Hochhausgruppe von Kowloon der Gruppe auf der Insel Hongkong gegenüber. Manhattans Midtown-Konzentration war im Finanzdistrikt am Südende, Downtown, eine disparate Konkurrenz erwachsen, die mit dem World Trade Center in der Skyline manifestiert wurde. Die Türme waren zum Bicentennial der amerikanischen Unabhängigkeit längst fertig gestellt, aber sie waren zunächst kein taugliches Symbol für die Nation, die sich selbst zur Rechenschaft gezogen hatte für den ungerechten, brutalen und zudem verlorenen Krieg in Vietnam. Im Gegenteil, bei jahrelangem Büroleerstand waren sie Zeichen der Hybris einer Stadt, die im Zuge der Ölkrise und ihrer Folgen knapp am Bankrott vorbeischrammte.

Minoru Yamasaki war ein Kind japanischer Einwanderer der ersten und zweiten Generation. Er wurde 1912 geboren (wie Jackson Pollock) und hat als schon erfolgreicher Architekt der Corporate Culture in seiner Heimatstadt Seattle für IBM ein Firmengebäude errichtet, das wie ein Zwergvorläufer des World Trade Centers aussieht. Er ist als Underdog aufgewachsen, als nisei, was amerikanisierte Japaner meint, Leute im Übergang, die – man mag es kaum glauben – vor siebzig und achtzig Jahren öffentliche Schwimmbäder nicht benutzen konnten. Als junger Mann hat Yamasaki, um sein Studium mit der einsetzenden Depression nicht abbrechen zu müssen, in Lachsfabriken in Alaska gearbeitet, unter Umständen, die der Sklaverei nicht fern sind. Nach Pearl Harbor, als nisei an der Westküste in Konzentrationslager gezwungen wurden, boten Yamasaki und seine Frau seinen Eltern in der New Yorker Zweizimmerwohnung Schutz, mit Piano. Seiner nun längst vergriffenen Monographie, „A Life in Architecture“ (1979), hat Minoru Yamasaki einen autobiografischen Bericht vorangestellt, in dem er versucht, das enorme Leiden am Ausgestoßensein mit triumphalen Erfahrungen zu vermessen. Dieser Triumph besteht im persönlichen Fleiß, in guten Zensuren, in kleinen Gratifikationen und technologischem Know-how, das Yamasaki als Architekt großer Anlagen den Weg in die Selbstständigkeit gebahnt hat. Seinen Erfolg legt er nicht als persönlichen aus, sondern als den der Gesellschaft, die ihn ermöglicht hat. Yamasaki ist ein glühender amerikanischer Patriot, ein Frontiersman der eifernden Sorte, der jede Kumpelei als Zeichen der Vervollkommnung der Menschheit deutet. Andererseits bleibt er der perfekte Japaner, mit seiner offziershaften Treue, einer soliden Ehrerbietung für das Recht des Stärkeren und gelegentlichen Trinkanfällen. Bei Detroit, auf einer ehemaligen Farm, baut er sein Glück als Family Man; als selbstständiger Architekt dreht sich die Perspektive des Aufstiegs um und die soziale Fürsorge für seine schließlich achtzig Angestellten verschränkt sich nahtlos mit dem Auftrag, die eigenen Vision durchzusetzen.

Und anders als die Prediger des Funktionalismus hat er keine. Er ist ein Pragmatiker ohne Allüren in Richtung Neue Stadt und Lebensreform, Kunst und Lebenskunst. Die Einladung, sich über die Megabebauung auf staatlichem Besitz im Süden Manhattans Gedanken zu machen, erreicht ihn als fünfzigjährigen Chef einer mittleren Firma im mittleren Westen. Yamasaki war als junger Mann eine Weile in dem Büro von Shreve, Lamb & Harmon beschäftigt gewesen, nachdem sie gerade das Empire State Building fertig gestellt hatten. Die Vorgabe im Jahr 1962 wird die Bebauung eines schwierigen Geländes mit erheblichen Büroflächen und begrenzten Mitteln. Yamasaki errechnet natürlich die Dimensionen des Solitärs und verwirft sie als unrealistisch; als hätte der junge Warhol ihm über die Schulter geguckt und gesagt: „Wieso, mach doch zwei“ – macht er zwei. Jetzt stimmt die Rechnung. Zusätzlich variiert er das Prinzip der technologischen Architektur mit ihren Betonskeletten und Glasvorhängen; er baut einen Stahlkäfig um einen Betonkern, der über ein aberwitziges Verfahren im Felsen der Insel Manhattan verankert wird. Dass die Dinger nicht stürzen, wenn komplette Passagierflugzeuge in ihre Fassaden rasen, ist der letzte Beweis einer überlegenen Technologie.

Es geschieht häufig, dass das Bild einer Skyline den Namen New Yorks wachruft

Es ist nicht das Gesicht eines „Empires“ und nicht das Hochhaus-Chalet eines Donald Trump. Es trägt nicht den Namen und das Signet eines Konzerns. Es ist teils Behörde und großteils Spekulation, es ist ein Forum, in dem sich Touristen und Professionals begegnen wie an keinem anderen Ort. Die Abwesenheit der Botschaft spiegelt der Nordturm im Südturm im Nordturm: Die Officewelt findet das Bild in sich selbst. Die an den Kanten geschliffenen Türme flüstern im Abendlicht „discover gold“. Jeder Turm für sich repräsentiert das Planquadrat, eine Systemstelle im Gitter. Durch die Zerstörung schwer getroffene Firmen winken innerhalb von 48 Stunden ihre Kundschaft in Flachbauten in New Jersey und versichern, dass sie versichert sind: Während das Symbol noch raucht, zeigt das Phänomen, dass es flexibel ist. Wenigstens das hat man mit den Angreifern gemein.

Das World Trade Center ist nicht der romantische Ort einer gänzlich Neuen Welt geworden. „Sleepless in Seattle“: Wohin wird das fehlende Element der suburbanen Kernfamilie bestellt und auch gefunden? An die Spitze des Empire State Buildings. Das World Trade Center ist der Sinnbild gewordene Ausdruck einer bewusst von Sinn gereinigten ökonomischen Formel, und wenn man es heute neu benennen müsste, würde man es „Global. . .“ nennen. Es war eine Formel, die sich mit Leben gefüllt hat, wie Manhattan, das erst heute wieder so vielen Leuten Arbeit und Leben möglich macht wie in den Zwanzigern. Erst zur Jahrtausendwende war die amerikanische Depression an diesem Ort überwunden. Dabei hatte das World Trade Center zwei Dinge zusammengebracht, nämlich das lautlose Büro mit der phantasietreibenden Ansicht, die man sich davon macht. Die Polarität von Professionellen und Laien – die Binnensicht und die Aufsicht – war um eine Leerstelle gebaut, und was sie bedeutete, war bisher offen. Es ist paradox, aber man kann sich nicht vorstellen, auf ihre Gestalt zu verzichten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen