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Ende des Wüstensturm-Syndroms

Nach den Anschlägen ist die US-Bevölkerung auch dann zu einem Militäreinsatz bereit, wenn eigene Soldaten und zahlreiche Zivilisten getötet werden

von ERIC CHAUVISTRÉ

In seiner Radioansprache vom Sonnabend stimmte Präsident George W. Bush die US-Bürger auf einen langen Krieg ein: „Sieg über den Terrorismus wird nicht in einer einzigen Schlacht erfolgen, sondern in einer Reihe entschlossener Aktionen gegen terroristische Organisationen und diejenigen, die ihnen Unterschlupf geben und sie unterstützen.“

Die in den Augen mancher Beobachter erstaunlich lange Zeit, die seit dem Attentat vergangen ist, ohne dass das US-Militär zu einem Angriff ausgeholt hat, ist nicht nur mit den Bemühungen der Bush-Regierung zu erklären, eine möglichst breite internationale Unterstützung für den Krieg zu organisieren. Die Zeit war wohl auch nötig, um die US-Bürger darauf einzustimmen, dass es bei dem jetzt geplanten Krieg auch unter den eigenen Streitkräften viele Tote und Verletzte geben könnte.

Denn die letzte große Militärintervention der USA gegen Irak 1991 prägt noch immer die amerikanische Vorstellung von einem Krieg. Zwar wurden auch im Krieg gegen Irak Bodentruppen eingesetzt, dies geschah aber erst nach vierwöchigen massiven Angriffen aus der Luft. Als die US-Bodentruppen anrückten, trafen sie fast nur noch auf tote oder völlig erschöpfte irakische Soldaten. Um kein Risiko einzugehen, ließ Präsident George Bush senior den Bodenkrieg nach 100 Stunden beenden und rückte nicht bis nach Bagdad vor.

Der Erfolg im Krieg gegen den Irak erwies sich aber in den folgenden Jahren als Handikap für das US-Militär: Denn die niedrigen eigenen Verluste im Golfkrieg hatten in der US-Öffentlichkeit die Erwartung aufkommen lassen, dass dies auch bei künftigen Kriegen so sein würde. Der Washingtoner Rüstungskritiker John Pike sprach in Analogie zum „Vietnam-Syndrom“ vom „Wüstensturm-Syndrom“: Begrenzte einst die Furcht vor massenhaftem Sterben der eigenen Soldaten die Möglichkeiten der Militärs, war es jetzt die durch den Erfolg am Golf entstandene Erwatung, ein Krieg ohne Gefahr für die eigenen Streitkräfte führen zu können.

Unbemannte Cruise Missiles waren deshalb die bevorzugte Waffe bei allen Angriffen der letzten Jahre. Nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam im August 1998 reagierte die USA mit Luftangriffen mit Marschflugkörpern und vermied auch hier jedes Risiko für die US-Truppen. Selbst bei dem ersten Anschlag auf das World Trade Center 1993 wurden keine Bodentruppen eingesetzt.

„Die erste Aufgabe dieser Gegenattacken war es, Entschlossenheit zu demonstrieren und ein Zeichen zu setzen gegen Terrorismus“, so Michael O'Hanlon von dem einflussreichen Washingtoner Denkfabrik Brookings Institution zu den damaligen militärischen Reaktionen der Clinton-Regierung auf Terroranschläge. Diesmal erwartet O'Hanlon, dass die militärischen Aktionen weit über solche symbolischen Akte hinausgehen.

Denn das „Wüstensturm-Syndrom“ ist nach den Anschlägen kein Hindernis mehr. Angesichts der mehr als 5.000 Opfer in New York und Washington wird die Öffentlichkeit bei dem Rachefeldzug sehr viel mehr Tote und Verletzte bei den eingesetzten Streitkräften akzeptieren, als bei jeder Intervention der letzten Jahre. Umfragen im Auftrag des Fernsehsenders CBS vom Wochenende zufolge würde die amerikanische Öffentlichkeit derzeit auch dann militärische Gewalt akzeptieren, wenn dabei „tausende von Zivilisten getötet werden könnten“. Zivile Tote brauchen also nicht einmal mehr als unvermeidbare „Kollateralschäden“ gerechtfertigt werden.

„Das Paradigma unserer nationalen Sicherheit hat sich verändert“, meint Michèle Flourney, Mitarbeiterin beim Center for Strategic and International Studies in Washington und unter Clinton eine hohe Beamtin im Pentagon. Sie sieht deshalb eine grundlegende Wende in der US-Militärstrategie: „Wir genießen nicht länger den Luxus, in erster Linie über den Schutz amerikanischer Alliierter und amerikanischer Interessen im Ausland nachzudenken.“ Dass sich die größte Militärmacht nun tatsächlich auf den Schutz des US-Territoriums zurückzieht, ist aber undenkbar. Dafür haben die USA seit Beginn der Achtzigerjahre zu viel in die militärische Infrastruktur rund um die Ölquellen im Nahen und Mittleren Osten investiert. Viele Militärs haben es ohnehin stets für einen Fehler gehalten, dass US-Truppen 1991 nicht bis nach Bagdad marschiert sind.

Anschläge von einer Dimension wie jetzt in New York und Washington hatten die USA bislang nur als „asymmetrische“ Reaktion auf eine Intervention im Nahen und Mittleren Osten befürchtet. Die Ankündigung des stellvertretenden US-Verteidigungsministers Paul Wolfowitz, die USA würden „Staaten ausschalten“, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die US-Dominanz am Persischen Golf dauerhaft abgesichert wird, solange die amerikanische Öffentlichkeit als Folge der Anschläge auch tausende Tote unter den eingesetzten US-Streitkräften akzeptiert. Denn langfristig könnte wieder die Furcht überwiegen, als Folge von Militärintervention das Ziel neuer Anschläge zu werden.

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