IN DEUTSCHLAND SIND DIE MILITANTEN ISLAMISTEN KEIN THEMA
: Das Desinteresse der Experten

„Wir dürfen den Terror nicht mit dem Islam gleichsetzen!“ Kirchen, Islamwissenschaftler und Parteienvertreter, sie alle fordern die Bevölkerung nach den Attentaten in den USA dazu auf, Muslime nicht unter Generalverdacht zu stellen. Falls es je eines Beweises bedurft hätte, dass es in Deutschland keine Form der institutionalisierten Islamfeindlichkeit gibt – seit der Kriegserklärung der radikalen Islamisten liegt er vor.

Nicht die Islamfeindlichkeit der Deutschen ist in diesen Tagen das eigentlich Beunruhigende, sondern das kollektive Versagen so genannter Islam-Experten. Sie haben sich in der Vergangenheit kaum mit dem Islamismus in Deutschland beschäftigt. Anstatt wenigstens jetzt über Bedeutung und Gefährlichkeit radikal-islamistischer Netzwerke aufzuklären, streuen sie der Öffentlichkeit weiterhin Sand in die Augen. Von den mehr als drei Millionen Muslimen in Deutschland seien nur rund 3.000 den radikalen Islamisten zuzurechnen und weitere 40.000 seien für islamistische Positionen anfällig, ist jetzt zu hören. Und das Publikum fragt sich: Ist das wenig? Die Antwort: Es ist viel, erschreckend viel. Zur Veranschaulichung: Gäbe es unter den Deutschen eine ähnliche Dichte antidemokratischer Positionen, hätten wir es nicht mit knapp 10.000 gewaltbereiten Rechtsextremisten zu tun, sondern mit 80.000; dazu kämen 1,2 Millionen Menschen, die in rechtsradikalen Parteien organisiert wären.

Was würde in diesem Fall passieren? Richtig – eine viel intensivere Debatte über die Ursachen und eine entschlossenere Bekämpfung dieses antidemokratischen Milieus wären die einzig angemessene Antwort. Es ist nicht vermessen, von den Repräsentanten des organisierten Islam Ähnliches zu erwarten, zum Beispiel eine Auseinandersetzung mit den militanten, antiwestlichen und antidemokratischen Kräften in ihren Reihen.

Die bisherige Diskussions- und Informationspraxis der Islamwissenschaften, aber auch von Einrichtungen wie dem Orientinstitut in Hamburg, des Zentrums für Türkeistudien in Essen, der katholischen und evangelischen Akademien oder der Heinrich-Böll-Stiftung grenzt an Fahrlässigkeit. Sie alle, die sich dem Thema Islam verpflichtet fühlen, haben wenig über den politischen Islam informiert oder geforscht. Lieber wurden Publizisten, die auf beunruhigende Entwicklungen hingewiesen haben, als Hysteriker diffamiert.

Das Versagen ist kein kollektiver Blackout, sondern hat System. Ein Teil der politischen Klasse glaubt die Ressource Islam im Allgemeinen und islamistische Gruppen im Besonderen als kommunitaristische Netzwerke nutzen zu können: um den Folgen von Arbeitslosigkeit und dem Niedergang der Einwandererviertel entgegenzuwirken. Sie nimmt dafür die religiöse Radikalisierung von Jugendlichen billigend in Kauf. Die christlichen Kirchen wiederum hoffen, mit den Islamisten gleichzuziehen, um der Religion endlich wieder den Platz in der Gesellschaft zukommen zu lassen, den sie ihrer Meinung nach verdient. Und Intellektuelle, die vor dem Feindbild Islam warnen, sorgen sich mehr um dessen guten Ruf als um die Opfer islamistischer Gewalt, die es bei uns seit Jahren gibt.

Wenn die Bürger nun erfahren, dass einige der Attentäter an deutschen Universitäten ausgebildet wurden und dass mitten unter uns ein islamistisches Netzwerk existiert, von dem niemand so richtig weiß, wie stark es in den nächsten Wochen die innere Sicherheit der Republik gefährden kann, wird die Angst wachsen. Und Angst erzeugt Aggression. Diese Aggression ist dann keine Folge mangelnden Wissens über den Islam, sondern des jahrelangen professionellen Beschweigens einer realen Bedrohung.

Hätte die Bundesregierung am vergangenen Freitag auf der zentralen Trauerfeierlichkeit für die Opfer der Attentate einen Repräsentanten muslimischer Organisationen als Redner auf das Podium einladen sollen? Als Zeichen der Anerkennung? Die Regierung war gut beraten, dies nicht zu tun. Denn von den großen muslimischen Dachverbänden gibt es mit Ausnahme der Aleviten niemanden, dessen Repräsentanten nicht in das Netzwerk des politischen Islam verstrickt wären. Aber auch der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Nadeem Elyas, ist unverdächtig, weil er sich besonders für die jüdisch-islamische Aussöhnung eingesetzt hat. Sein Manko: Er repräsentiert lediglich 4.000 organisierte Muslime. EBERHARD SEIDEL