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Die „Kultur“ hat kein Wesen

„Kampf der Kulturen“ oder „Feindbild Islam“? Diese beiden Erklärungsmuster wirken gegensätzlich. Doch tatsächlich haben sie viel gemeinsam – nicht nur, dass sie falsch sind

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland sind in der Regel nicht religiös motiviert

Seit den Anschlägen in den USA werden zwei Theoreme inflationär gebraucht: „Kampf der Kulturen“ und „Feindbild Islam“. Die Begriffe geistern seit Jahren immer dann durch die Debatte, wenn es um das Verhältnis zwischen der so genannten westlichen Welt und der so genannten islamischen geht. Auf den ersten Blick beschreiben diese Denkansätze Kontroverses. In Wirklichkeit wurzeln jedoch beide Vorstellungen in einem essenzialistischen Kulturbegriff, schreiben also Kulturen feste Wesensmerkmale zu.

Jene, die behaupten, der Westen pflege ein „Feindbild Islam“, gehen von zweierlei aus. Erstens: In den tieferen Schichten des europäischen Unterbewusstseins schlummere eine bis in die Zeit der Kreuzzüge zurückreichende Furcht und Phobie gegenüber der islamischen Welt, die jederzeit aktiviert werden könne. Zweitens: Der Westen brauche ein Feindbild, um sich seiner Identität zu versichern und geopolitische Interessen sowie militärische Aufrüstung zu legitimieren. Deshalb habe man nach dem Ost-West-Konflikt das alte Feindbild Kommunismus durch jenes des Islam ersetzt.

Vorgetragen wird dieses Argument vor allem von Vertretern islamischer Organisationen, einem Teil der bundesdeutschen Linken und von Islam-Experten. Jenem Kreis also, der sich der Widerlegung der Thesen vom „Kampf der Kulturen“ verschrieben hat, die Samuel P. Huntington Mitte der Neunzigerjahre zur Diskussion stellte.

Grob zusammengefasst lautet Huntingtons These: Die Weltpolitik im 21. Jahrhundert werde nicht von Auseinandersetzungen politischer, ideologischer oder wirtschaftlicher Natur bestimmt, sondern vom Konflikt zwischen den sieben großen Weltkulturen. Wer sein Werk liest, kann tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass der Islam die größte Bedrohung des Westens ist.

Wie bei der These vom Feindbild Islam funktioniert auch die Behauptung eines Kampfes der Kulturen nur dann, wenn voneinander abgrenzbare Kulturkreise definiert und ihnen Wesensmerkmale sowie daraus resultierende Konfiktpotenziale zugeordnet werden. In beiden Fällen ist dies zum Scheitern verurteilt.

Zunächst zum Kampf der Kulturen. Dieses Konzept geht davon aus, dass es homogene Gesellschaften gäbe, die sich als Blöcke gegenüberstehen. Doch sind Kulturen oder besser Gesellschaften heute alles andere als uniform. In der Regel sind sie zerklüftet und zerfallen in eine Vielzahl unterschiedlichster Interessen und Identitäten, wie Dieter Senghaas in seinem Buch „Zivilisierung wider Willen“ eindrucksvoll analysiert hat. Das Resultat: Schon innerhalb einer Gesellschaft stehen sich widerstreitende Dominanz- und Machtansprüche gegenüber.

Die Konfliktlinien verlaufen heute seltener transnational, sondern meist innerhalb der Gesellschaften. Zwei Beispiele: Ägypten führt heute nicht mehr Krieg gegen Israel, sondern gegen die militanten Muslimbrüderschaften. Und in Algerien metzeln Muslime nicht Christen nieder, sondern Muslime.

Zudem haben islamistische Gruppen nur wenig mit dem Islam als Religion zu tun, sondern sind in erster Linie eine Reaktion auf ökonomische, politische und gesellschaftliche Krisen. Sie sehen sich als Alternative zu den nationalistischen, sozialistischen und neoliberalen Modellen gesellschaftlicher Entwicklung, die in der „islamischen“ Welt offensichtlich alle gescheitert sind.

Weder Gewalt noch eine Unvereinbarkeit mit demokratischen Prinzipien oder die Ablehnung universalistischer Werte wohnen dem Islam als Wesensmerkmal inne. Ebenso wenig sind Werte wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Gleichheit der Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Rasse und Religion per se ein Charakteristikum der westeuropäischen Gesellschaften. Diese Werte mussten in langen Kämpfen erstritten werden. Und sie sind stets aufs Neue zu verteidigen.

Die EU-Staaten können auf ein Feindbild verzichten, denn sie sind areligiös und amoralisch

Die Abkehr von einem essenzialistischen Kulturbegriff bedeutet allerdings auch, der These vom Feindbild Islam zu widersprechen. Sie ist im Kern die Wiederbelebung der antiquierten Vorstellung, es gäbe eine Art „Erbkonflikt“ zwischen „Abendland“ und „Morgenland“. Diesen gibt es nicht. Auch ein brisanter oder heißer Konflikt zwischen der islamischen Welt und Westeuropa existiert nicht. Daran ändern die jüngsten Attentate ebenso wenig wie die Versuche von islamistischen Gruppen, die Gewalt des serbischen Militärs und der Polizei im Kosovo als einen christlich-islamischen Konflikt zu interpretieren. Allein die militärische Intervention der Nato zugunsten der mehrheitlich muslimischen Kosovaren lehrt etwas anderes.

Während die nicht demokratisch legitimierten Führer von Staaten wie Irak, Afghanistan, Syrien und Libyen antiwestliche Ressentiments als Bindemittel und zur Herrschaftssicherung benötigen, können die EU-Staaten weitgehend auf ein Feindbild verzichten. Denn sie sind im Kern areligiös und amoralisch, das heißt, von Interessen bestimmt und weniger von Tugenden, Glauben und Ehre. Das ermöglicht dem Westen im Unterschied zur Mehrheit islamischer Staaten, allen Religionen Freiheiten zu gewähren. Darauf hat Siegfried Kohlhammer in seinem Essay „Die Freunde und Feinde des Islam“ hingewiesen.

Bis heute können die Vertreter der These vom „Feindbild Islam“ zentrale Fragen nicht beantworten, die sich aus ihrer Theorie ergeben: Wer konstruiert das Feindbild? Wie wird es zur ideologischen Homogenisierung und zur Mobilisierung für das eigene System genutzt?

In Deutschland deutet wenig bis nichts auf ein aktuelles Feindbild Islam hin. Ansonsten wäre es nicht politisch durchsetzbar gewesen, Hunderttausende von muslimischen Flüchtlingen aus Bosnien aufzunehmen – ebenso wenig wie die Flüchtlinge aus dem Libanon, Afghanistan, der Türkei, Pakistan, Indonesien, dem Irak und dem Iran.

Weder die wirtschaftlichen noch die politische Interessen der USA und der EU-Staaten machen ein Feindbild Islam opportun. Sie würden wenig Nutzen daraus ziehen. Obgleich das Mullah-Regime in Teheran nach 1979 die Menschenrechte mit Füßen getreten hat und tatsächlich lange eine terroristische Gefahr für den Westen war, drängte die deutsche Industrie dennoch auf einen „kritischen Dialog“, also zu einer Appeasement-Politik.

Auch müssen die Einwanderungsgesellschaften des Westens, wollen sie keine bürgerkriegsähnlichen Zustände unter ihrer heterogenen Bewohnerschaft heraufbeschwören, an einer Integration der Muslime, auch der islamistischen Gruppen, interessiert sein. Um dieses Ziel nicht zu gefährden, zeigen die politisch Verantwortlichen eine bis zur Selbstverleugnung reichende Toleranz auch gegenüber radikalen Islamisten, die ein sehr reales Gefahrenpotenzial sind.

Ein brisanter oder heißer Konflikt zwischen der islamischen Welt und Westeuropa existiert nicht

Dies alles schließt Fremdenfeindlichkeit und Rassismus nicht aus. Aber die Übergriffe der letzten Jahre waren in Deutschland in der Regel nicht religiös motiviert. Dennoch behaupten Islamisten, die rassistische Gewalt in Deutschland sei antiislamische Gewalt. Absichtlich wird übersehen, dass der Rassismus christliche rumänische Asylsuchende, katholische Mosambikaner, buddhistische Vietnamesen ebenso trifft wie muslimische Türken.

Das Unbehagen vieler Bürger in Westeuropa gegenüber bestimmten Ausdrucksformen islamischen Lebens sollte ernst genommen werden. Es wird jedoch nicht dadurch geringer, sondern noch gefördert, wenn man dieses Unbehagen leugnet und vorschnell als Ausgeburt des Feindbilds Islam denunziert. Es gibt zwar keine islamische Bedrohung, aber reale Bedrohungen durch islamistische Gruppen. Und nicht immer müssen sie so dramatisch sein wie die Anschläge auf das World Trade Center in New York.

In einer angespannten Situation wie heute muss ein anderer Dialog mit islamistischen Kräften geführt werden als in der Vergangenheit. Bislang hat er sich durch wenig Kompetenz und viel Blauäugigkeit ausgezeichnet. Es ist an der Zeit, diese Naivität abzulegen und offen über islamistische Organisationen und Funktionäre sowie über deren Ziele und Strategien zu informieren und zu debattieren. Nur so lassen sich die zivilen Kräfte der europäischen Gesellschaften aktivieren, zu denen selbstredend auch die Muslime gehören. Eine selbstbewusste Gesellschaft braucht weder die Krücke des Kampfes der Kulturen noch die der These vom Feindbild Islam. EBERHARD SEIDEL

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