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Von den Medien totgeschrieben

Nach den Anschlägen in den USA beteiligten sich auch die Medien an der Jagd nach islamistischen Terroristen in Deutschland. Dabei wurde aus einem ahnungslosen Greifswalder Student ein „Entführer“ und „Attentäter“

GREIFSWALD taz ■ Als am 11. September zwei Flugzeuge ins World Trade Center rasten, war der jordanische Student Baha al-Sabbagh in Hamburg. Dort jobbte er in den Semesterferien. Einen Tag später ging an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald, wo der 23-Jährige seit vier Jahren Medizin studiert, ein Anruf ein. In einem Sprachenwirrwar aus Deutsch und Englisch stellte sich ein Mann als al-Sabbaghs Vater vor. Er wollte wissen, ob sein Sohn bei den Anschlägen in den USA umgekommen sei.

Weil sich aber die ermittelnden Behörden nicht an die Universität wandten, hielt man den Anruf dort für einen „grausamen Scherz“. Die Hochschule meldete den Vorfall der Polizei. Einen Anruf erhielt auch al-Sabbaghs Mutter in Jordanien. Ein Mann teilte ihr mit, der Sohn sei tot.

Wenige Tage später wurde aus dem Studenten ein mutmaßlicher Terrorist. Denn bei der Spurensuche nach den Selbstmordpiloten, von denen drei in Hamburg studiert hatten, war auch die Universität Greifswald ins Visier der Ermittler geraten. Einer der Attentäter hatte sich dort 1996 und 1997 am Studienkolleg auf ein Hochschulstudium in Deutschland vorbereitet. Die lokalen Medien in Greifswald machten sich auf die Suche nach weiteren islamistischen Terroristen. Mit zweifelhaftem Erfolg.

Am 17. September war im Radiosender „NDR 1-Radio Mecklenburg-Vorpommern“ zu hören, dass „noch ein zweiter ausländischer Student in Greifswald eingeschrieben war, der an Bord der bei Pittsburgh abgestürzten Maschine war“. Ohne Quellenangabe behauptete der Sprecher, dass auch al-Sabbagh „an Bord des United Airlines Flugzeugs ums Leben gekommen ist“. Er habe die Maschine „wahrscheinlich mit anderen Männern aus dem arabischen Raum entführt“. Die Nachrichtenagentur dpa, die Ostseezeitung in Rostock und Bild Hamburg berichteten über den „Entführer“ und „getöteten Attentäter“. Eine Journalistin hatte al-Sabbaghs Namen von der Polizei erfahren.

Erst durch Anrufe von Freunden erfuhr der Student von seinem „Tod“. Er sei ratlos gewesen, so al-Sabbagh zur taz. Ein Kollege riet ihm, zur Polizei zu gehen. „Bei der Kripo Hamburg wurde mir gesagt, dass nichts gegen mich vorliegt.“ Vom Landeskriminalamt weiß Anwalt Thomas Grave, dass „al-Sabbagh nie auf der FBI-Liste der mutmaßlichen Attentäter“ stand. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ermittelt gegen zwei namentlich bekannte Personen. Al-Sabbagh ist nicht darunter.

Ein „unglaublicher“ Vorgang, findet der Anwalt. Als al-Sabbagh vor einigen Tagen nach Greifswald zurückkehrte, „grüßten mich einige Leute nicht mehr, andere drehten sich weg und trauten sich nicht zu fragen“.

Am Dienstag sendete „NDR 1-Radio Mecklenburg-Vorpommern“ ein Interview mit al-Sabbagh, in dem dieser klarstellte, dass er nicht an Bord der abgestürzten Maschine gewesen sei und mit den Anschlägen nichts zu tun habe. Nun nennt er selbst seinen Namen – schließlich haben die Medien ihn auch zitiert.

Anwalt Grave hat sich mit dem NDR auf Schadensersatz für seinen Mandanten geeinigt. Von einem „bedauerlichen Fehler“ spricht der Direktor des Landesfunkhauses Mecklenburg-Vorpommern, Gerd Schneider. „Gelegentlich sitzt man Falschinformationen und missverständlich dargestellten Informationen auf“, so Schneider.

Nach den ersten Medienberichten über al-Sabbagh verfasste der Hohe Akademische Senat eine Note: „Seit ihrem Bestehen sind Universitäten Gemeinschaften, die politische und kulturelle Grenzen überschreiten. In der Sorge vor Diskriminierungen, Abschottung und Aggression verurteilen wir deshalb alle Neigungen, die Verbrechen vom 11. September 2001 bestimmten Religionen oder ethnischen Gruppen zuzuweisen.“

BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

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