: Die unheimliche Ruhe
Früher oder später werden die Vereinigten Staaten militärisch auf die Terroranschläge reagieren. Die Gefahr einer unkontrollierbaren Kettenreaktion besteht also weiterhin
Vor drei Wochen ist es passiert. Seit drei Wochen versucht man, sich das Ausmaß dieses Verbrechens begreifbar zu machen – erst unter dem unmittelbaren Schock des Angriffs und der Angst vor einem gewaltigen Gegenschlag der USA, jetzt unter dem Eindruck der Rückkehr zu einer surrealen Normalität und dem Gefühl des Erstaunens: Die USA haben immer noch nicht „zurückgeschlagen“. Sie haben bislang nicht getan, was die Terroristen mit ihren Attacken wohl provozieren wollten: eine schnelle, wütende Vergeltungsaktion mit zivilen Opfern in Afghanistan oder anderswo, die nach ihrem Kalkül hunderttausende Muslime in Saudi-Arabien, Pakistan, Indonesien, Jordanien oder den palästinensischen Gebieten in Aufruhr gebracht hätten.
Amerikas „ultimatives Kriegsziel“ sei die Rückkehr zu dem, „was vor dem 11. September normal war“, schrieb vor ein paar Tagen die Washington Post. Dazu gehört auch, dass der Präsident nach Tagen ungekannter verbaler Sicherheit wieder mit der englischen Sprache ringt. „Die Terroristen haben mich fehlunterschätzt (misunderestimated)“, erklärte er Ende letzter Woche. Und wir haben bis auf weiteres diese Regierung fehlunterschätzt. Nicht, dass die Angst vor einem wahl- und grenzenlosen Vergeltungsschlag unbegründet gewesen wäre. Kurz nach den Angriffen auf World Trade Center und Pentagon wurde im Weißen Haus der große spektakuläre Schlag gegen Afghanistan diskutiert – mit der Option: next stop Bagdad. Stattdessen hat die Bush-Administration ihre martialische Rhetorik erheblich moderiert. Sie hat die größte internationale Polizeifahndung der Geschichte in Gang gesetzt und eine erstaunliche Affinität zu den Vereinten Nationen entdeckt. Und sie hat realisiert, dass der Kampf gegen Ussama Bin Laden im Cyberspace ebenso schwer zu führen ist wie in den afghanischen Bergen.
Diese Strategie trägt deutlich die Handschrift Colin Powells, den die US-Medien vor dem 11. September schon auf die politische Ersatzbank verbannt sahen. Dass er dort nicht sitzt, wird innenpolitisch durch zwei Faktoren begünstigt: Erstens herrscht unter großen Teilen der amerikanischen Bevölkerung eine bewundernswerte Besonnenheit. Zweitens kann sich ein republikanischer Präsident ein solches Vorgehen eher leisten als ein demokratischer. Al Gore hätte sich nach drei Wochen ohne Bombenangriffe massive Zweifel an seiner Mannhaftigkeit und Führungskraft anhören müssen.
Es wird Militärschläge geben – daran ist nicht zu zweifeln. Die Gefahr einer unkontrollierbaren Kettenreaktion besteht weiterhin, und man braucht einigen Optimismus, um an das derzeit bestmögliche Szenario zu glauben: Ussama Bin Laden wird gefasst; die Taliban werden unter Inkaufnahme möglichst weniger ziviler Opfer militärisch soweit geschwächt, dass sich ihr „gemäßigter“ Flügel auf Verhandlungen über eine Interimsverwaltung einlässt; die internationale Gemeinschaft pumpt Milliardenbeträge in eine Ruine des Kalten Krieges, um die humanitäre Grundversorgung aufzunehmen und vermutlich unter UN-Regie erste Verwaltungsstrukturen einzuziehen. „Nation building“ ist das nicht. Eher schon passt der Begriff der „unwanted colonies“, der „unerwünschten Kolonien“ des Westens, den amerikanische Politologen für die internationalen Verwaltungen in Bosnien und im Kosovo geprägt haben.
Was fehlt noch in diesem „best case scenario“? Der pakistanische Diktator Pervez Musharraf behält nach einem Exodus radikaler Taliban in sein Land die Kontrolle über militante Fundamentalisten und über die Atomwaffen seines Landes; Colin Powell und Joschka Fischer bitten oder boxen einen kriegslüsternen Ariel Scharon und einen korrupten, politisch fast desavouierten Jassir Arafat immer wieder an den Verhandlungstisch.
Über all dem schwebt die Gefahr weiterer Anschläge. Über all dem schweben aber auch die Gefahr von Teufelspakten im Kampf gegen das „große Böse“: Wladimir Putin hat sich ausbedungen, dass Moskaus Krieg gegen Rebellen und Zivilbevölkerung in Tschetschenien vom Westen nur mehr als russische Variante des globalen Antiterrorkampfes gewertet wird. Mit Usbekistan haben sich die USA einen Partner in die Koalition geholt, der friedliche Muslime terrorisiert. Die Nordallianz, die nun von Russland und den USA hochgerüstet wird, besteht aus Warlords, die für Menschenrechte nicht viel mehr übrig haben als ihre talibanischen Erzfeinde. „Realpolitik“ heißt das. Aus Gründen der „Realpolitik“ hatte der Westen seinerzeit Saddam Hussein gegen den Iran und die afghanischen „Gotteskrieger“ gegen die Sowjetunion aufgerüstet. Jahre später verwandelten sich die kooperativen Teufel in den „großen Satan“ zurück.
Hier ist dann auch schon Schluss mit der vernünftigen Politik der Bush-Regierung: Auf dem Capitol lässt der Präsident bestellen, dass er für die nächsten fünf Jahre freie Hand haben möchte bei Militärhilfe in alle Ecken dieser Welt. Schluss mit Exportrestriktionen gegen Diktaturen, sofern sie sich nur in den Kampf gegen den Terrorismus einreihen. Man darf gespannt sein, ob der Kongress sich dem Zwang zum patriotischen Jasagen entzieht und daran erinnert, dass solche Restriktionen aus gutem Grund eingeführt wurden. Das Stichwort „Iran-Contra“ fällt einem ein.
Auch die neue Nähe der USA zu den Vereinten Nationen ist zweischneidig. Washington hat einen Teil seiner ausstehenden Schulden bezahlt, es hat sich durch Resolutionen des Sicherheitsrats den Einsatz militärischer Gewalt gegen die Taliban legitimieren lassen. Es behält gleichzeitig aber auch die Definitionsmacht darüber, was Terrorismus ist und wann und wo der Krieg gegen denselben stattzufinden hat.
Wie weit es mit dem neuen Multilateralismus der Bush-Regierung her ist, wird sich an ihrem Umgang mit internationalen Verträgen zur Kontrolle nuklearer, chemischer und biologischer Waffen erweisen. Das sind kurzfristig zwar wirkungslose, aber langfristig unverzichtbare Instrumente gegen den Terrorismus. In den Augen der Bush-Regierung gelten solche Kontrollmechanismen bislang als Gefahr für die nationale Souveränität.
Letztlich steht und fällt der moralische und politische Anspruch der Kampagne gegen Terrorismus mit der Reaktion auf die Flüchtlingskatastrophe in Afghanistan. Man möchte meinen, dass die internationale Gemeinschaft Lehren aus dem Kosovo-Krieg gezogen hat. Dann wäre eine humanitäre Planung Teil dieser ganzen Antiterrorstrategie gewesen, und die UN müsste jetzt nicht um Geld betteln. Dann hätte man von Pakistan und dem Iran nicht nur militärische Unterstützung, sondern auch die Öffnung ihrer Grenzen abverlangt – verbunden mit der Garantie, dass der Westen die Versorgung der Flüchtlinge finanziert. Das ist verdammt teuer. Es ist der Preis für das Versprechen, die Beherrschten nicht für die Verbrechen ihrer Herrscher zu bestrafen. Es ist der Preis für die Parole, die seit dem 11. September in aller Munde ist: Wir sind eine Welt. ANDREA BÖHM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen