netzgeschichten
: Freispruch für das Internet

Einen Monat nach dem 11. September 2001 darf zumindest eine Erkenntnis als hinlänglich gesichert gelten: Das Internet war nicht schuld an den Anschlägen von New York und Washington. Der Erklärungsnotstand dauert auch nach der militärischen Identifikation der möglichen Urheber an, deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in dafür anfälligen Zirkeln an jede nur denkbare Verschwörungstheorie geglaubt wird.

Eine Ahnung davon vermittelten in den vergangenen Wochen selbst ganz harmlose Chaträume, in denen völlig abseits des angezeigten Gesprächsthemas Täterprofile herumgeisterten, die umso verbissener verteidigt wurden, je absurder sie waren. Die Juden und der CIA führten die Liste der Verdächtigen an, dicht gefolgt von Pentagon, Finanzkartellen, dem Satan, dem Papst und galaktischen Mächten außerhalb des Sonnensystems. Lediglich Bill Gates kam diesmal beinahe ungeschoren davon – ganz und gar aus der üblichen Liste gestrichen war jedoch der Kandidat, der vor dem 11. September in der veröffentlichten Meinung stets an erster Stelle genannt wurde, wenn es darum ging, das Böse auf der Welt zu erklären: das Internet.

Das ist trotz des verheerenden Anlasses ein Grund zur Hoffnung. Am 11. September hat das Internet seine moralische Bewärungsprobe bestanden. Es macht niemandem mehr Angst, so darf man aus diesem Umstand schließen, niemand ruft mehr nach Zensur wie noch zur der Zeit, als es einer angeblich ahnungslosen Öffentlichkeit vor Augen geführt hat, wie verbreitet der sexuelle Missbrach von Kindern tatsächlich ist – in der Wirklichkeit, nicht im Netz. Oder wie gefährlich faschistische Propaganda tatsächlich ist – ebenfalls nicht dadurch, dass man sie im Netz besser erkennen kann als am Stammtisch.

Vorbei, heute geht es der Polizei wie auch den Massenmedien wieder darum, die Täter in der wirklichen Welt haftbar zu machen. Kein deutscher Staatsanwalt hat bisher versucht, islamistische Webseiten zu schließen, vielmehr verweist die Polizei darauf, dass es ihr gelang, einen der mutmaßlichen Attentäter anhand einer Mailingliste zu identifizieren. Die Ermittler sind stolz darauf und kommen plötzlich nicht mehr auf die noch kurz zuvor reflexartig vorgetragene Idee, solche Listen zu verbieten oder wenigstens so weit zu kontrollieren, dass sie selbst für fromme Familienväter nicht mehr brauchbar sind.

Gewiss hat dieser Erfolg seinen Preis: Die Polizei wird den Datenverkehr noch viel genauer durchforsten als bisher. Aber sie wird ihn nicht mehr zu behindern versuchen, weil sie selbst ein sachkundiger User geworden ist, der dieses System als Informationsquelle nutzt. Die Diskussion um die Grenzen ihrer Befugnisse kann nun endlich auf rationalem Boden geführt werden. Die Aufgabe, terroristische Selbstmörder ausfindig zu machen, erzwingt professionelle Ermittlungsmethoden und verträgt sich nicht mit dem bisher gepflegten Generalverdacht, dass schlicht jeder Netz-User ein potenzieller Verbrecher sei.

NIKLAUS HABLÜTZEL

niklaus@taz.de