Der Schock sitzt zu tief

Friedensbewegung ruft zu Großdemonstrationen auf. Engagement junger Menschen wäre entscheidend für Renaissance der Bewegung. Doch offener Antiamerikanismus schreckt ab

von KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT

Knapp 60 Prozent der Deutschen halten die „Angriffe der USA auf Afghanistan“ für gerechtfertigt; 28 Prozent halten sie für falsch. Das will das Bonner Dimap-Institut für den Radiosender MDR herausgefunden haben. Ein tatsächlich nur knapper Punktsieg für die „Bellizisten der Neuzeit“, wie etwa Mattias Kohler vom Mannheimer Friedensplenum die Politiker an der Heimatfront und in Übersee titulierte.

Gibt es also eine neue Chance für eine Renaissance der deutschen Friedensbewegung, die an diesem Sonnabend zu Großdemonstrationen nach Berlin und Stuttgart aufruft? Mit 50.000 Menschen allein in Berlin rechnet der Trägerkreis aus rund dreißig Organisationen.

Fast auf den Tag genau vor 20 Jahren waren rund 250.000 Friedensfreunde nach Bonn gekommen, um gegen die Nachrüstung der Nato mit Pershing-II-Raketen zu protestieren. Gegen die damals auch in Stellung gegangenen SS-20-Raketen der Sowjetunion demonstrierte die Friedensbewegung im Bündnis mit der DKP jedoch nicht. Sie musste sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, „von Moskau ferngesteuert“ (CDU) worden zu sein.

Und heute? Da hätte das Dimap-Institut die Bevölkerung vielleicht besser danach gefragt, ob es gerechtfertigt sei, Stellungen der Taliban und Ausbildungslager der Terrorgruppe al-Qaida zu bombardieren. Da wäre die Zustimmungsquote sicher höher gewesen. Nach der ersten Angriffswelle der britischen und der US-Airforce gegen Ziele in Afghanistan versammelten sich jedenfalls spontan weit weniger Menschen zum Protest gegen die Luftschläge, als von den Friedensfreunden prognostiziert: nur 150 in Frankfurt am Main, rund 200 in Mannheim und ein paar Dutzend in Stuttgart.

Nur in Berlin gingen etwa 3.000 Schülerinnen und Schüler auf die Straße – ein erster Erfolg für die Friedensbewegung. Denn noch auf dem letzten Ratschlag am 22. September in Kassel waren fast nur die Veteranen der Szene vertreten. Dass die Friedensbewegung wieder aufersteht, glaubt die ehemalige Friedensaktivistin und DDR-Dissidentin Bärbel Bohley dennoch nicht. Der Kampf gegen den Terrorismus eigne sich nämlich nicht für „einfache Lösungen“.

In Frankfurt am Main etwa sind viele jüngere Leute aus dem Umfeld der Grünen und der Jungsozialisten, die noch als Teenager während des Golfkrieges Mahnwachen organisiert hatten, nicht bereit, sich an Aktionen gegen das bewaffnete Engagement der USA in Afghanistan zu beteiligen. Zu tief noch sitzt der Schock nach den massenmörderischen Attacken der Terroristen vor allem gegen das World Trade Center in New York. Dort wurde auch ihr Lifestyle tödlich getroffen: der multikulturelle in der US-amerikanischsten Stadt in Deutschland, Frankfurt (Mainhattan).

Die Grüne Jugend Hessen (GJH) fordert ihre Mitglieder denn auch nicht zur Teilnahme an den Demonstrationen der Friedensbewegung auf. Sie will aber Druck ausüben: auf die Bundesregierung. Der Ankündigung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), den afghanischen Flüchtlingen eine „großzügige Hilfe“ gewähren zu wollen, müssten jetzt auch Taten folgen, sagte GJH-Sprecher Omid Nouripour.

Ganz hart mit der Friedensbewegung ins Gericht ging ein nach Deutschland geflohener Afghane auf dem Diskussionsforum des Mannheimer Friedensplenums im Internet: „Wo war denn die Friedensbewegung in den Jahren, in denen die Taliban Tausende Afghanen ermordeten, Frauen und Kinder vergewaltigten und Massaker veranstalteten“, so die Vorwürfe von „Massud“. Er jedenfalls kenne keinen Afghanen im Exil, der die „naiven Sorgen“ der Friedensbewegung vor einem Krieg teile.

„Im Gegenteil: Alle sind froh, dass die Taliban endlich bekämpft werden.“ Der „Antiamerikanismus“ der deutschen Friedensbewegung, so Massud abschließend, sei „nur noch peinlich“.

Der Bundesregierung wurde am Dienstag ein von immerhin 20.000 Menschen unterschriebener „Friedensappell“ übergeben. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) glaubt dennoch nicht an eine Renaissance der Friedensbewegung. Der traditionelle Pazifismus, sagte er, sei eine „unangemessene Antwort auf den internationalen Terrorismus“.