Der Keller im Kopf

Im Berliner Untergrund lauert das Verbrechen – eine wahre Kleinkriminalgeschichte

Fünf Schweiß treibende Nachtstunden später war es vollbracht

Der Geruch des Unheimlichen wollte von jenem dunklen Revier in Ostberlin, in das ich vor einem Jahr gezogen war, partout nicht weichen, weshalb ich mich gezwungen sah, das einstige Gebiet der Mauertragödien und Fluchttunnel schnellstmöglich wieder zu verlassen.

Zum ordnungsgemäßen Beenden des unseligen Mietverhältnisses aber fehlte mir plötzlich eine unvermutete Kleinigkeit: ein laut Mietvertrag von mir zu nutzender, in Wahrheit aber nie gesehener und noch weniger genutzter Kellerraum. Besenrein wie meine Wohnung musste ich ihn nun zurückgeben, doch wo war er bloß abgeblieben?

Ich kramte in meiner Erinnerung: Hatte man mir etwa beim Einzug einen leeren Verschlag gezeigt? Nicht dass ich wüsste. Es gab acht Kellerquartiere, und alle waren sie ordnungsgemäß verschlossen. Indessen zählte ich nur sechs Mietparteien, von denen eine gar – nämlich ich – ohne Keller herumlief.

Als ich daraufhin der Hausverwaltung erklärte, keinen Keller räumen zu können, da ich nie einen belegt hatte, erklärte mir die hierfür zuständige patzige Dame, dass es die Pflicht eines jeden Mieters in Berlin sei, sich einen freien Keller beim Einzug durch das Anbringen eines Vorhängeschlosses zu sichern. Ich wäre keineswegs erstaunt gewesen, wenn die grantige Person auch noch einen dementsprechenden Senatsbeschluss zitiert hätte. Kein Zweifel, ich hatte mir als Neoberliner ein folgenschweres Versäumnis zuschulden kommen lassen. Denn ohne Keller, so wurde mir weiter erläutert, werde man mir keine Kaution zurückzahlen. Schluck. Die brauchte ich aber!

Der folgende Tag sah mich zum Letzten entschlossen. Zunächst ermittelte ich die einzelnen Kellernutzer, indem ich die Namen auf dem Klingelbrett mit etwaigen Namenseintragungen auf den Verschlägen abglich. Erstaunliches kam hierbei zu Tage: So hatte sich das Pärchen mit der Einraumwohnung im Parterre gleich zwei Kellerlöcher geschnappt und der Hausbesitzer, der weder im Haus noch überhaupt in Berlin lebte, vereinnahmte ebenfalls seinen Teil. Schließlich blieb eine Kellertür übrig, auf der nur drei mit Filzstift gemalte Kreuze prangten. Nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten war dies mein Keller. Wer auch immer ihn zweckentfremdet und seine rechtmäßige Inbesitznahme durch mich verhindert hatte, er hatte Unrecht damit getan.

Die Brechstange, die ich mir auf einer nahen Baustelle ausborgte, brauchte sich dem mittelschweren Sicherheitsschloss nur kräftig zu nähern, da sprang es auch schon auf. Vorsichtig öffnete ich die knarrende Lattentür, durch die man von außen so gut wie nichts gesehen hatte.

Wie erschrak ich da! Der kleine Raum war voll gestopft bis unter die Decke: Kisten mit DDR-Leseausgaben deutscher Klassiker und jahrzehntealten Fachbüchern über ostdeutsche Mikrobiologie, diverse Schreibtische, ein Glastisch, ein Plüschsofa, eine Eckbank, mehrere Matratzen, Fahrräder, vermodernde Koffer mit Uniformen, eine FDJ-Fahne, ein halber Trabbi sowie die kompletten Jahrgänge der jungen Welt von 1949 bis 1989.

Was blieb mir übrig – es gab kein Zurück. Das Zeug musste rasch verschwinden, bevor mich jemand überraschte. Fünf Schweiß treibende Nachtstunden später war es vollbracht: Stück für Stück versank der Abraum eine halbe Etage tiefer, im Grubensumpf des ehemaligen Kohlenkellers, wo bereits verrostete Ostwaschmaschinen, Ostkühlschränke und Ostmöbel vor sich hin dümpelten.

Vom Transport der Eckbank waren leider tiefe Schleifspuren im Boden zurückgeblieben, die ich auch durch das gleichmäßige Verteilen von Schmutz nicht beseitigen konnte. Aber gleichwie. Stolz auf meinen eroberten Keller fegte ich ihn notdürftig aus. Ich fühlte mich recht schwach auf den Beinen. Rasch verriegelte ich die Stätte des Grauens mit einem riesigen Sicherheitsschloss. Rußverschmiert, die Brechstange in der schmutzigen Rechten, begegnete ich im Hof dem Neffen des Hausbesitzers, der jede Woche zum Putzen kam.

„Na, keene Leiche mehr im Keller?“ Ich raffte mich zu einem müden Lächeln auf. „Bei mir müsste auch mal aufgeräumt werden“, sprach er weiter, „die ganzen Erinnerungen . . . DDR-Antiquitäten . . . sind ja sehr gefragt heute! Aber man müsste mehr Platz haben, mein Lager unten ist schon übervoll!“

Ich hielt mich den Tag über bei Freunden versteckt, machte dann einige Wochen Urlaub und schickte zur Wohnungsübergabe einen ahnungslosen Stellvertreter. Von Ummeldung und Nachsendeantrag habe ich abgesehen und lebe bisher unentdeckt – im Untergrund. TOM WOLF