: Jenseits der Moden
Der Kleinverleger Hansgert Lambers gibt Fotobände über russische Straflager, stillgelegte Industriereviere, verfallene Grenzbrücken und den einstigen DDR-Alltag heraus. Ein Porträt
von JANA SITTNICK
Hansgert Lambers tritt zum riesigen Bücherregal im Büro seiner Pankower Wohnung und zieht einen Fotoband hervor. „Zona – die Zone; Fotografien aus den Straflagern Russlands“ von Sergej Vasiljev. Eine junge nackte Frau liegt müßig hingestreckt, auf schwarzem Untergrund. Ihr schlanker Körper ist mit Tätowierungen übersät. Über der linken Brust prangt ein Stern mit den kyrillischen Buchstaben „CCCP“, der Abkürzung für „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“. In der Lagersprache bedeutet der Stern „Freiheit“. Vasiljev rückt den Strafgefangenen, den Bewohnern einer „Parallelwelt“, die für das öffentliche Auge nicht existiert, ganz nah auf die Haut, als ehemaliger Wärter durfte er im Gefängnis fotografieren.
„Zona – Die Zone“ ist ein außergewöhnlicher Fotoband, den Hansgert Lambers verlegt hat. Er sagt an diesem Nachmittag, er sei richtiggehend „an den Rand“ gegangen mit Vasiljev, der doch die andere Seite der Zivilgesellschaft zeige: Das Randseitige ist Lambers ästhetisches Programm.
Seit fünfzehn Jahren betreibt der ehemalige EDV-Ingenieur seinen Miniverlag – unabhängig und ohne Aussicht auf Gewinn. „Es ist unmöglich, anspruchsvolle Fotografie im Kleinverlag zu verkaufen“, sagt er. Doch Lambers ging es von Beginn an nicht um den ökonomischen Erfolg. Fotografie, die im Alltag ihren Gegenstand findet, ihn aufnimmt und sein Bild ins Nichtalltägliche verrückt, das interessiert ihn. Lambers lief schon als Student in den späten Fünfzigerjahren mit einer Leica durch Berlin und fotografierte Gehsteige, Kinder und zerbombte Stadtlandschaft. „Mein Berlin“ heißt ein kleiner Band in einem grauen Pappkartonumschlag, den er selbst in der „edition 365“, einer limiterten Künstlerbuch-Reihe mit 365er-Auflage, verlegt hat.
Mit den Fotobänden seines „expose“-Verlages möchte Lambers Denkanstöße geben und den Blick auf die unterschiedlichsten Realitäten lenken. Allein ihm fehlt das Publikum. Er habe schon versucht, sich an größere Verlage zu koppeln, wegen des Vertriebs, aber das sei nicht gut gegangen. Finanzierungsformen wie das Sponsoring von Wirtschaftsunternehmen, mit „Werbeauftritten“ in seinen Bänden, kann er sich nicht vorstellen. Da geht bei ihm die Kunst immer vor Kommerz. Alte Schule, you name it.
Der 64-jährige Wahlberliner studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Berlin und arbeitete anschließend mehr als dreißig Jahre bei einer amerikanischen Computerfirma, für die er in der ČSSR und der DDR industrielle Computeranlagen aufstellte. In Brno sah der EDV-Mann 1971 eine Ausstellung mit tschechoslowakischer Fotografie und war begeistert, weil die „keinen Moden aus dem Westen folgte“. Er baute Kontakte zu den Künstlern auf und fuhr einmal im Jahr in die ČSSR. Er besuchte Fotografen in Ostberlin, suchte nach dem „Realistischen“, nach dem Ungekünstelten in der Darstellung. „Mich interessiert erzählende Fotografie“, sagt er, „die über die Abbildung hinausgeht, ins Innere ihres Gegenstandes. Ein gutes Foto sollte mehrere Nebenschauplätze haben, so dass man es nicht nur einmal anschaut.“ 1986 gründete Lambers seinen Verlag und brachte die Bände „Berliner“ von Christian Borchert (DDR) und „Ostrava“ von Viktor Kolar (ČSSR) heraus.
1989 verneigte er sich vor Fotografinnen der DDR, als er gemeinsam mit der Kulturwissenschaftlerin Gabriele Muschter die Schwarzweißanthologie „DDR-Frauen fotografieren“ herausbrachte. 43 Künstlerinnen versammelt der Band, unter ihnen Gundula Schulze, Helga Paris, Ute Mahler, Sibylle Bergemann, Tina Bara, Merit Pietzker. Der Ost-Alltag – nicht mehr gegenwärtig, fast imaginär: Gesichter, Körper, Fassaden. Porträts, Gruppen- und Aktaufnahmen, aufgenommen in „volkseigenen Betrieben“, in Wohnungen, auf der Straße, in Kneipen.
Eine seltsame Fin-de-Siècle-Melancholie vermitteln diese Bilder, ein Fin de Siècle aus den Spätachtzigern. Die androgynen Szenemenschen, die Tina Bara in kargen Altbauwohnungen ablichtete, schauen trotzig in die Kamera. Zu lachen gab es wenig, so scheint es, zu trinken immer reichlich. Merit Pietzkers Fotos von Punks dagegen sind lustiger. Junge Mädchen recken da unbeschwert den Stinkefinger in die Kamera, und stadtbekannte Ostberliner Jungs wie „Speiche“ tanzen Pogo vor der Kirche.
„Zur Buchpräsentation in Ostberlin“ sagt Lambers zum Abschied noch, „musste ich dem Zoll ein Schreiben des VEB Verlag der Künste vorlegen, in dem bestätigt wurde, dass es sich bei den mitgeführten Bänden um ‚hochwertige Kunst‘ handelt.“ Einige der Künstlerinnen, die schon im Westen lebten, durften nicht einreisen. Vier Wochen später fiel die Mauer.
Die Fotobände des „expose“-Verlags kann man über den Buchhandel bestellen.
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