: Jugendliche hinter Gittern
Minderjährige kommen weiter in Abschiebehaft. Innenverwaltung ignoriert Parlamentsbeschluss
von HEIKE KLEFFNER
Sechs Jahre lang hat Erkan S. (Name geändert) in Berlin gelebt. Als Zehnjährigen schickten ihn seine Eltern alleine auf die Reise aus einem kurdischen Dorf in der Türkei ins sichere Deutschland. Erkan S.s ältere Brüder waren wegen ihrer politischen Aktivitäten inhaftiert und gefoltert worden und leben inzwischen ganz legal in Deutschland. Als Erkan 1995 in Berlin ankam, behandelten die Behörden den jungen Kurden wie alle allein fliehenden Jugendlichen – er wurde in einem Heim untergebracht und ging zur Schule. Mitte Oktober wollte der heute 16-Jährige seine Duldung verlängern lassen. Doch den begehrten Stempel bekam er nicht. Er wurde er in der Ausländerbehörde festgenommen und in die Abschiebehaftanstalt Grünau gebracht. Was Erkan S. nicht wusste, weil sein Anwalt ihm seine Post an die falsche Adresse geschickt hatte: Das Verwaltungsgericht hatte ihm Rechtsschutz gegen die Ablehnung seines Asylantrages verweigert. Damit lag die rechtliche Grundlage zur Abschiebung vor. Verstört landete Erkan S. in Grünau. Seinen Verwandten, die ihn dort besuchten, berichtete er, dass er keine Medikamente für seine Schilddrüsenerkrankung erhalten habe.
Erkan S. ist keine Ausnahme, sondern einer von derzeit 18 Jugendlichen im Alter von 16 bis 18 Jahren, die teilweise seit über einem Vierteljahr hinter Gittern auf ihre Abschiebung warten – trotz eines gegenteiligen Beschlusses des Abgeordnetenhauses. Denn bei der letzten Sitzung vor der Wahl hatten die Abgeordneten mit den Stimmen von SPD, Grünen und PDS entschieden, dass die Abschiebehaft für Minderjährige unter 18 Jahren in Berlin gänzlich aufgehoben werden solle. Experten hatten wiederholt die Traumatisierung kritisiert, die die Jugendlichen durch die Haft erleiden. In Grünau sind sie gemeinsam mit über 300 erwachsenen Abschiebehäftlingen in Zwei- bis Sechsbettzellen untergebracht, eine gesonderte Betreuung erhalten sie nicht.
Doch bislang ignoriert die Innenverwaltung den Beschluss des Parlaments. Berlin müsse sich „an die bundeseinheitlichen Verwaltungsrichtlinien halten“, sagt die Sprecherin von Innensenator Ehrhart Körting (SPD), Svenja Schröder-Lomb. Und die sähen nun mal die Abschiebehaft für Jugendliche ab 16 Jahre vor. „Das ist eine Frage des Ermessensspielraums und der Abwägung, ob die Abschiebehaft verhältnismäßig ist“, sagt hingegen Hartwig Berger, migrationspolitischer Sprecher der grünen Abgeordnetenhausfraktion. Erkan S. etwa habe eine feste Melde- und Wohnadresse gehabt und sei zu jeder Zeit für die Ausländerbehörde erreichbar gewesen. „Es gab keinen Grund zur Inhaftierung“, so Berger.
Dem 58-Jährigen, der nach drei Legislaturperioden nicht mehr dem neuen Parlament angehören wird, geht es jedoch nicht nur um den Einzelfall, sondern ums Prinzip. Die Inhaftierung der Jugendlichen überschreite „die Grauzone zur seelischen Grausamkeit“, findet Berger. Im Übrigen grenze das Verhalten des Innensenats an eine „Brüskierung“ des Parlaments.
Hartwig Berger will nicht aufgeben. Bevor er dem Parlament den Rücken kehrt, wird er in der kommenden Woche nach Grünau fahren, um die inhaftierten Jugendlichen zu besuchen. Zum Beispiel den 16-jährigen Algerier Mahmut K. (Name geändert), der seit über vier Monaten in Abschiebehaft sitzt. Ein Richter hatte ihn ohne ein gerichtsmedizinisches Gutachten durch „Inaugenscheinnahme“ als „wesentlich älter“ eingestuft. Erkan S. wird Hartwig Berger nicht mehr treffen. Der kurdische Schüler wurde inzwischen in die Türkei abgeschoben.
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