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Mit Volldampf in die Niederlage

Als Colin Powell unmittelbar nach dem Anschlag auf das World Trade Center verkündete, Amerika befinde sich „im Krieg“, beging er einen sehr natürlichen, aber schrecklichen Irrtum.

Was Colin Powell sagte, macht Sinn, wenn man den Begriff Krieg im Sinne eines Krieges gegen Kriminalität oder gegen Drogenschmuggel verwendet – also als Mobilisierung aller verfügbaren Ressourcen gegen eine gefährliche, asoziale Aktivität, die man nie vollständig ausradieren, aber auf ein Niveau senken kann, das die soziale Stabilität nicht gefährdet. Die Briten haben viele solcher „Kriege“ geführt – in Palästina, Irland, Zypern und Malaya, um nur wenige zu nennen (1). Aber wir nannten sie nie „Kriege“ – wir nannten sie „Ausnahmezustände“.

Das bedeutete, Polizei und Geheimdienste mit außergewöhnlichen Befugnissen auszustatten und, wenn nötig, mit Streitkräften zu verstärken, aber alle operierten innerhalb eines zu Friedenszeiten geltenden Rahmens ziviler Führung. Wenn Gewalt angewandt werden musste, war sie minimal und, soweit möglich, unterbrach sie den normalen Gang des zivilen Lebens nicht. Das Ziel war, die Terroristen zu isolieren. Sie wurden nicht mit dem Status von Kriegsparteien geehrt – sie waren Verbrecher.

Terroristen, oder noch sprachunkundiger dem Terrorismus „den Krieg zu erklären“, gibt ihnen sofort einen Status und eine Würde, die sie suchen und die sie nicht verdienen. Es verleiht ihnen eine Art Legitimität. Handelt es sich um „Kriegsparteien“? Wenn ja, sollten sie nicht unter dem Schutz des Völkerrechts stehen?

Doch den Begriff „Krieg“ zu gebrauchen, oder vielmehr zu missbrauchen, ist nicht einfach eine Sache der Juristerei oder pedantischer Semantik. Es hat gefährlichere Folgen. Zu erklären, man befinde sich „im Krieg“, schafft eine Kriegspsychose, die völlig kontraproduktiv sein könnte. Es schürt sofortige Erwartungen nach einer spektakulären Militäraktion mit durchschlagendem Ergebnis gegen irgendeinen leicht zu identifizierenden Gegner, vorzugsweise einen feindlichen Staat. Der Einsatz von Gewalt ist nicht länger die letzte Wahl, sondern die erste, und je schneller desto besser.

Die Presse fordert sofortige Heldengeschichten und füllt ihre Seiten mit Bildern von Waffen. Minister, deren Geschichtskenntnisse ungefähr so groß sind wie ihre Führungsqualitäten, tun als „Appeasement“ (2) jede Anregung ab, ob die beste Strategie nicht darin bestehen könnte, gar keine militärische Gewalt anzuwenden, sondern subtilere, wenn auch weniger heroische Mittel. Figuren der Rechten, die sich in Afghanistan um das betrogen sehen, was die Deutschen früher einen „frisch-fröhlichen Krieg“ nannten, fordern Krieg gegen einen zufriedenstellenderen Gegner, Irak – wie der Betrunkene, der in einer dunklen Gasse seine Armbanduhr verlor, aber unter einer Straßenlaterne nach ihr suchte, weil es da heller war. Was ihre Gegenstücke auf der Linken angeht, bringt sie schon das Wort „Krieg“ auf die Straße, zum Protest aus Prinzip. Die Eigenschaften, die ein ernsthafter Feldzug gegen Terroristen benötigt – Geheimhaltung, Informationen, politische Klugheit, lautlose Skrupellosigkeit, verdeckte Aktionen die verdeckt bleiben, vor allem unendliche Geduld – sie alle werden vergessen oder übertönt.

Das alles haben wir in den letzten drei oder vier Wochen gesehen. War es vermeidbar? Dem, was Präsident Bush so unglücklicherweise als einen „Kreuzzug gegen das Böse“ bezeichnete, also ein militärischer Feldzug einer von den Vereinigten Staaten beherrschten Allianz, hätten viele eine Polizeioperation unter Aufsicht der Vereinten Nationen gegen eine kriminelle Verschwörung vorgezogen, deren Mitglieder gejagt und vor ein internationales Gericht gestellt werden sollten, wo sie einen fairen Prozess und bei Feststellung ihrer Schuld eine angemessene Strafe erhalten würden. In einer idealen Welt wäre das zweifellos so geschehen. Aber wir leben nicht in einer idealen Welt. Die Zerstörung der Twin Towers und das Massaker an mehreren Tausend unschuldigen Büroarbeitern wurde in den Vereinigten Staaten nicht als Verbrechen gegen die „internationale Gemeinschaft“ gesehen, für das die Vereinten Nationen zuständig seien. Für sie war es eine Gräueltat gegen das amerikanische Volk. Sie erforderte sofortige und spektakuläre Rache durch ihre eigenen Streitkräfte. Und wer kann ihnen das verdenken? Präsident Bush verdient großen Respekt für seinen Versuch, einen anderen Weg einzuschlagen. Er hat einseitigem Handeln abgeschworen. Er hat ein Mandat der Vereinten Nationen gesucht und erhalten (3). Er hat eine erstaunlich breite Koalition aufgebaut, die wirklich die „internationale Gemeinschaft“ verkörpert, soweit es sie gibt. Fast ebenso wichtig haben der Präsident und seine Kollegen ihr Bestes getan, um dem amerikanischen Volk zu erklären, dass dieser Krieg anders als jeder andere sein wird und dass sie ihre Erwartungen entsprechend anpassen müssen. Aber es ist immer noch ein Krieg. Das K-Wort ist gebraucht worden und kann jetzt nicht wieder zurückgenommen werden; und sein Gebrauch hat zu unvermeidlichem und unwiderstehlichem Druck geführt, militärische Gewalt so schnell und so entschlossen wie möglich einzusetzen.

Ein Kampf gegen Terrorismus ist im Grunde ein Kampf um hearts and minds – und es lohnt sich, sich daran zu erinnern, dass dieser Satz zuerst im Kontext des erfolgreichsten Feldzuges dieser Art entstand, den die britische Armee je geführt hat, der Ausnahmezustand von Malaya in den 50er-Jahren, der übrigens an die fünfzehn Jahre dauerte. Ohne hearts and minds kann man keine Informationen bekommen, und ohne Informationen kann man Terroristen nie besiegen. Man kann Terroristen nur mit Unterstützung der öffentlichen Meinung erfolgreich zerstören.

Wie wir in Palästina und Irland feststellten, haben die Terroristen bereits eine wichtige Schlacht gewonnen, wenn sie die Behörden zum Einsatz offener bewaffneter Kräfte gegen sie provozieren können. Entweder entkommen sie bis zur nächsten Schlacht, oder sie werden geschlagen und als Märtyrer gefeiert. Der Kampf gegen sie fügt mit Sicherheit vielen Zivilisten Schaden zu, was die moralische Autorität der Regierung weiter beschädigt. Wer hier wird jemals den Blutsonntag in Nordirland vergessen, als die britische Armee mit ein paar Salven aus Kleinwaffen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) einen Propagandasieg bescherte, von dem sich die britische Regierung nie erholten sollte? (4) Und wenn Gewehrfeuer so viel Schaden anrichten kann, was soll man über Luftangriffe sagen?

Die Bombardierung Afghanistans, wie auch immer man sie militärisch rechtfertigt, wird mit den von ihr verursachten unvermeidlichen Kollateralschäden die große moralische Überlegenheit, die wir als Ergebnis der Bombardierung des World Trade Centers genossen, allmählich zerbröseln lassen. In sechs Monaten wird diese Gräueltat für einen großen Teil der Welt nur noch Geschichte sein, während jedes neue Fernsehbild von einem getroffenen Krankenhaus, von durch Minen verkrüppelte Kinder, von Flüchtlingen den Hass unserer Gegner stärken, die Reihen der Terroristen füllen und neue Zweifel bei unseren Unterstützern säen wird.

Ich bezweifle kaum, dass der Feldzug in Afghanistan nur auf der Grundlage der besten politischen und militärischen Beratung unternommen wurde, in vollem Bewusstsein seiner militärischen Schwierigkeit und politischen Gefährlichkeit und im ehrlichen Glauben, es gebe keine Alternative. Aber die Terroristen hatten den ersten und wichtigsten Trumpf gezogen, indem sie uns zwangen, diesen Feldzug überhaupt zu unternehmen.

Ich kann die militärische Logik verstehen. Sie ist auf der politischen Annahme gegründet, dass das terroristische Netzwerk so schnell wie möglich zerstört werden muss, bevor es noch mehr Schaden anrichten kann. Sie nimmt ferner an, dass dieses Netzwerk von einem einzelnen bösen Genie, Ussama Bin Laden, geleitet wird, dessen Eliminierung seine Organisation demoralisieren, wenn nicht gar zerstören wird. Bin Laden operiert aus einem Land heraus, dessen Herrscher sich weigern, ihn auszuliefern. Diese Herrscher müssen gezwungen werden, ihre Meinung zu ändern. Der schnellste Weg dazu besteht in Luftangriffen.

Aber die beste und makelloseste Logik ist wenig wert, wenn sie von falschen Annahmen ausgeht. Ich bezweifle nicht, dass in Washington wie in London fragende Stimmen erhoben wurden – aber wenn, wurden sie sofort vom Donnerschlag des politischen Imperativs übertönt: Es Muss Etwas Geschehen. Wir stecken nun in einem fürchterlichen Dilemma. Wenn wir Bin Laden „der Gerechtigkeit zuführen“ und ihn vor Gericht stellen, geben wir ihm eine Plattform für Propaganda. Wenn wir ihn ermorden, wird er ein Märtyrer. Wenn er entkommt, wird er ein Robin Hood. Er kann nicht verlieren. Und selbst wenn er eliminiert wird, ist es schwer zu glauben, dass ein globales Netzwerk, dessen Angehörige angeblich so intelligent und hochgebildet wie treu und skrupellos sind, nicht weiterhin effizient funktionieren kann, bis Polizei und Geheimdienste es in geduldigen und langfristigen Operationen aufspüren und ausbuddeln. Ein solcher Prozess könnte Jahrzehnte dauern. Nun, da die Operation begonnen hat, muss sie zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden – erfolgreich genug für uns, damit wir mit einem annehmbaren Ausmaß von Ehre und zur Zufriedenheit der Boulevardpresse einen „Sieg“ beanspruchen können. Nur danach wird es möglich sein, mit dem wahren Kampf fortzufahren – einer, in dem es keine spektakulären Schlachten geben wird und keinen klaren Sieg.

Sir Michael Boyces Analogie des Kalten Krieges (5) ist wertvoll. Nicht nur dauerte er sehr lange – er musste kalt bleiben. Es gab eine ständige Gefahr, dass er aus Versehen in einen heißen Atomkrieg umkippen könnte. Heute gibt es eine nicht weniger Furcht erregende Gefahr – die Möglichkeit einer andauernden Konfrontation der Kultuern, die nicht nur die Welt spalten, sonden auch den inneren Zusammenhalt unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaften sprengen wird.

Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Ussama Bin Laden in der islamischen Welt mehr Sympathie genießt als, sagen wir, Ian Paisley (6) in der Christenheit. Das Phänomen ist bekannt – ein dem Westen fanatisch feindlich gesinnter, charismatischer religiöser Führer, der einen Kult anführt, der manchmal eine ganze Nation in seinem Bann hält. Es gab den Mahdi im Sudan im späten 19. Jahrhundert, und den „Mad Mullah“ in Somaliland im frühen 20 Jahrhundert. (7) Zugegebenermaßen waren sie rein lokale Probleme. Der Unterschied heute ist, dass solche Führer Anhänger auf der ganzen Welt werben und auf der ganzen Welt zurückschlagen können. Sie vertreten weder den Islam noch werden sie vom Islam gebilligt, aber die Wurzel ihrer Anziehungskraft liegt in einem speziell islamischen Schicksal, das in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensiver geworden ist – die Herausforderung an islamische Kultur und Werte, die die weltliche und materialistische Kultur des Westens darstellt, und ihre Unfähigkeit, damit klarzukommen.

Das müssen wir verstehen, wenn wir irgendeine Hoffnung haben wollen – nicht so sehr darauf, dass wir den neuen „Kalten Krieg“ gewinnen, sondern dass wir verhindern, dass er heiß wird. Rückblickend ist es erstaunlich, wie wenig wir von der gigantischen Krise verstanden haben, der dieser Teil der Welt vom Maghreb durch den Nahen Osten und Zentralasien nach Süd- und Südostasien ausgesetzt ist – überbevölkert, unterentwickelt, vom Westen an den Haaren in die Postmoderne gezerrt, bevor er mit der Moderne klargekommen ist. Dies ist nicht ein Problem von Armut gegen Reichtum, und ich fürchte, es ist symptomatisch für unseren westlichen Materialismus, so etwas zu vermuten. Es ist die viel tiefere Konfrontation zwischen einer deistischen und traditionellen Kultur, an manchen Stellen wenig anders als das Europa des Mittelalters, und den weltlichen materiellen Werten der Aufklärung. Aber für die meisten Amerikaner bleibt der Islam eine riesige Terra incognita – wie alle solchen Gebiete auf mittelalterlichen Landkarten hauptsächlich von Drachen bewohnt.

Dies ist die Region, wo wir den Kampf um hearts and minds führen und gewinnen müssen. Die Frontlinie in diesem Kampf ist nicht Afghanistan. Sie liegt in den islamischen Staaten, wo ein traditionalistischer Rückschlag modernisierende Regierungen bedroht: Türkei, Ägypten, Pakistan, um nur die offensichtlichsten zu nennen. Und sie verläuft auch durch unsere eigenen Straßen.

Das ist der Grund, warum eine Verlängerung des Krieges so verheerend sein könnte. Noch verheerender wäre seine Ausweitung, wie die amerikanische Öffentlichkeit sie zunehmend zu fordern scheint, auf andere „Schurkenstaaten“, angefangen mit Irak, um den Terrorismus ein für alle Mal auszurotten, damit die Welt in Frieden leben kann. Mir fällt keine Politik ein, die besser dazu geeignet wäre, den Krieg nicht nur unbefristet zu verlängern, sondern auch sicherzustellen, dass wir ihn niemals gewinnen können.

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