: Gehetzte Vorreiter
Der Pazifismus ist nicht tot, aber er muss sich wandeln. Er muss zum Partner des Militärs werden. Denn die Gewalt hat sich privatisiert, klassischen Krieg gibt es kaum noch
Linke, zumal Pazifisten, haben es schwer in Deutschland. Meist gelten sie als idealistisch und weltfremd. Kommen sie – erstaunlicherweise – doch mit der Wirklichkeit und dem Regieren zurecht, dann sind sie verächtlich, weil sie ihre Prinzipien verraten haben. Da sind sich rechte Zyniker und linke Dogmatiker einig.
Aber der Pazifismus ist nicht tot. Er wird gebraucht, solange Menschen sind, wie sie sind: nicht selten aggressiv und oppressiv, gewalttätig und kampfeslüstern. Pacem facere, Frieden stiften, wird nie unnötig – aber in Zeiten privatisierter Gewalt muss sich Pazifismus wandeln.
Je weiter wir uns vom 20. Jahrhundert entfernen, desto mehr wundern wir uns über die Schwäche des Pazifismus im Jahrhundert der Weltkriege und Totalitarismen. Zweimal verheizte nationalistischer Wahn ganze Generationen, aber der Protest blieb dürftig. Lässt sich da etwas nachholen? Leider nicht. Was wir mit dem Wort „Krieg“ verbinden, gibt es in Europa nicht mehr. Der Offiziersbewerber von heute wird nie anwenden, was er vor allem lernt: den Krieg zwischen Armeen. Er wird weniger schießen als andere am Schießen hindern, wie in Bosnien. Er wird Waffen einsammeln, wie in Mazedonien. Immer häufiger wird er seufzen: Hätte ich eine Polizeiausbildung! Denn er wird es vor allem mit privatisierter, kommerzialisierter und kriminalisierter Gewalt zu tun bekommen.
Privatisierte Gewalt kommt von unten und von oben. Von unten sind wir sie gewohnt. Aber die Zeiten Che Guevaras sind vorbei. Rebellenbewegungen haben heute auch mafiöse Strukturen. Sogar die tschetschenischen. Überall finden wir eine Mixtur aus nationalistischem und religiösem Fanatismus mit kruder Kriminalität. Und je länger gemordet wird, desto dominanter wird die kriminelle Seite. Das gilt von der Abu Sayyaf über die Rebellen Kolumbiens bis – demnächst – zu den Taliban in den Bergen Afghanistans.
Privatisierte Gewalt finanziert sich selbst. Daher muss sie sich lohnen. Oft bleibt unklar, was Mittel ist und was Zweck. Handeln die Warlords in Westafrika mit Diamanten, um ihre verwilderten Söldner zufriedenzustellen, oder spielen sie „Krieg“, um des Diamantenschmuggels willen? Auch Bin Laden ist Kriegsherr, Drogenhändler und Börsenspekulant in einem.
Weltweit wächst die Zahl der Firmen, die Söldner und Waffen vermieten, notfalls auch an Regierungen. Aber die haben meist nicht die Dollars. Im Neoliberalismus gehen die Finanzströme an den Regierungen vorbei. (Ließe sich Herr Esser seine Abfindung mit 5 Prozent verzinsen, könnte er sich davon ein halbes Dutzend Bundeskanzler halten.)
Auch von oben wird Gewalt privatisiert. „Paramilitärische“ Gruppen verrichten die Drecksarbeit, die Diktatoren ihrer Armee nicht zumuten wollen. In Serbien waren es die „Schwarzen Tiger“ des Berufsverbrechers Raznjatović, der sich Arkan nannte. Auch Mugabes „Kriegsveteranen“ gehören dazu.
Privatisierte Gewalt kennt kein Gesetz. Ein Offizier lernt, was ein Kriegsgericht ahndet. Die Kindersoldaten in Afrika lernen nur das Töten.
Privatisierte Gewalt macht keinen Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilisten. Im Ersten Weltkrieg kam noch ein toter Zivilist auf zehn tote Soldaten, doch wo privatisierte Gewalt wütet, ist es umgekehrt. Auch in New York und Washington.
Wo privatisierte, kommerzialisierte Gewalt überhand nimmt, verwischt der Gegensatz von Krieg und Frieden. War der Massenmord in Ruanda Krieg? Herrscht im Kongo Krieg? Krieg hatte immer mit Staaten zu tun. Die Warlords im Kongo wollen keinen Staat. Er könnte nur ihre blutigen Geschäfte stören. Bin Laden will nicht Ministerpräsident von Afghanistan werden. Ein Staat wäre für ihn Ballast.
Im Nahen Osten gibt es keinen Frieden, aber auch nicht den Krieg zwischen Armeen wie 1967 oder 1974. Es gibt die teilprivatisierte Gewalt. Rache für die Rache für die Rache. So wie Scharon seine militärische Überlegenheit nicht ausspielen kann, nützen Bush seine Atomwaffen nichts.
Gegenüber privatisierter Gewalt sind Militärs meist so hilflos wie Pazifisten. Die regulären Truppen, von Nachbarstaaten in den Kongo entsandt, benehmen sich nach einigen Monaten nicht anders als die verkommenen Söldner. Und der Pazifist, der diese vom Plündern oder Vergewaltigen abhalten wollte, hätte Glück, wenn er nur ausgelacht und nicht abgeknallt würde.
Der Pazifismus des 20. Jahrhunderts hatte zwei Voraussetzungen: den definierbaren Krieg, der einen politisch gesetzten Anfang und ein ebensolches Ende hatte, und ein Mindestmaß an Rechtsstaat. Dieser Pazifismus ist so obsolet wie die Massenheere. Wo das Militär immer mehr Polizeiaufgaben übernehmen muss, sind Militär und Pazifismus aufeinander angewiesen. Militär kann, etwa in Bosnien, nur das Schießen verhindern, keinen Frieden stiften. Aber die Pazifisten konnten dort erst arbeiten, als das Militär das Morden beendet hatte.
Wer dem Militär die Intervention gegen privatisierte Gewalt verbieten möchte, kann es gleich abschaffen. Denn nur noch dazu dürfte es gebraucht werden. Die Frage ist nicht, ob Interventionen nötig sind, sondern wie sie legitimiert werden. Daher brauchen wir ein internationales Gewaltmonopol. Bisher wird eher zu wenig und zu spät interveniert. In die „entités chaotiques ingouvernables“ Westafrikas schickt die Nato keine Soldaten. Das ist ihr zu gefährlich und wohl auch zu hoffnungslos. Was sind schon zwei Millionen tote Kongolesen? In Mazedonien kamen die Soldaten offenbar gerade noch rechtzeitig.
Am 9. November 2001 stand in den Zeitungen, Bin Laden habe den USA (!) mit Massenvernichtungsmitteln, auch Atomwaffen gedroht. Ob er sie nun schon hat oder erst daran arbeiten lässt, die Geheimdienste beschäftigen sich seit Jahren mit atomarem Terror. Sollte es ihn einmal geben, so wird sich zeigen, wie verwundbar und erpressbar die Staaten der westlichen Zivilisation sind. Dann wird der Ruf laut: Staaten aller Kontinente vereinigt euch! Kämpft gegen eine allgegenwärtige, kaum fassbare, gesetzlose, privatisierte, kommerzialisierte und kriminalisierte Gewalt! Was tun dann die Pazifisten? Plädieren sie für den Dialog? Mit wem? Angenommen, eine Spezialeinheit der Bundeswehr könnte eine Produktionsstätte für atomare, chemische oder biologische Vernichtsmittel ausheben, wer würde ihr dazu nicht gratulieren?
Was die Privatisierung der Gewalt an Umdenken abfordert, ist grausam. Eigentlich braucht so etwas viel Zeit. Aber die haben wir nicht. Seit dem Vertrauensvotum vom 16. 11. 2001 wissen wir dies noch besser. Wer jetzt von Verrat am Pazifismus tönt, hat nichts begriffen. SPD und Grüne sind nur die getriebenen und gehetzten Vorreiter ins 21. Jahrhundert.
Nachbemerkung: Vor 30 Jahren bin ich durch die alte Republik gepilgert mit der Botschaft: Wenn wir jetzt nicht mehr für die armen Länder tun, müssen wir es büßen. Prävention ist wichtig, aber sie erspart uns kurzfristig keine Entscheidung.
ERHARD EPPLER
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