: Ich habe mich der Jugend angeschlossen
Als Lotte Kirchberger ein Kind war, gab es schulfrei an Kaisers Geburtstag. Als junge Frau kannte sie die Oranienstraße als „Ku’damm des Ostens“. Als sie eine alte Dame geworden war, kamen junge Künstler in ihr Haus – und ihre Tochter ging ins Pflegeheim. Besuch bei einer Hundertjährigen
von FRIEDERIKE GRÄFF
In der alten Wohnung hat Lotte Kirchberger abends immer ihren Mann in der Essecke sitzen sehen. Obwohl er doch kurz vor Kriegsende gefallen war. Deshalb ist sie 1955 aus der Waldemarstraße umgezogen. „Ich hab mir für meine Sachen einen Mann mit einer Karre genommen und bin in die Oranienstraße gezogen“, sagt Lotte Kirchberger. „Dann hab ich Ruhe gehabt“. Sie lacht, während sie auf die Holzlehne ihres Sessels klopft. Ihr Lachen ist tief, heiser und wiederkehrend. Säße sie nicht weißhaarig, mit blauem Hauskleid und orangefarbener Bluse neben ihrem Handarbeitskorb, würde man es verraucht und möglicherweise theaterträchtig nennen.
Beim Umzug hat Lotte Kirchberger von den alten Möbeln nur den schweren dunklen Schrank behalten, alles andere hat sie damals verkauft. Heute stehen vor allem kleine Stilleben in ihrem Wohnzimmer. In einer Efeulaube residiert eine Porzellannymphe, die bei Stromzufuhr Wasser aus ihrem Krug gießt. Ein Strickzwerg schaut in der Laube sitzend zu und neben der Nymphe wohnt ein Pinguin. An den Wänden hängen Berglandschaften, einmal als Herbstbild und zur Sicherheit noch einmal als Foto. Lotte Kirchberger ist in Berlin geboren und hat gut achtzig ihrer hundert Jahre in dieser Stadt verbracht, aber München gefällt ihr besser. Zwanzig Jahre hat sie dort gelebt, nachdem sie 10-jährig von der ungeliebten Mutter zum Vater ausgerissen ist.
„Da unten ist es schöner“, sagt sie, leicht berlinernd, und dass sie nur deshalb nach Berlin zurückgegangen sei, weil ihr Mann dort Arbeit gefunden hatte. München bedeutete Blick auf die Berge, bedeutete Anstandsschule für höhere Töchter und einen Vater, der als Messerschmied-Hoflieferant Lotte gerne als Gesellschaftsdame im Nymphenburger Schloß gesehen hätte. Stattdessen wurde sie Schneiderin in der Oranienstraße.
Seit fünfzig Jahren lebt sie in dieser Straße, die eigentlich zwei Straßen sind. Der „Ku’damm des Ostens“ in den dreißiger Jahren, der ihr gefallen hat und die Sammelstraße von Künstlern, Aussteigern und türkischen Einwanderern, die ihr fremd war. Aber das Fremde hat sie geprägt in einem Alter, in dem die meisten Menschen abgeschlossen haben mit dem Neuen.
Wenn Lotte Kirchberger von der alten Oranienstraße erzählt, ist „elegant“, das häufigste Wort. Dann folgen „lebhaft“ und „interessant“. „Die Oranienstraße war lebhafter als der Ku’damm heute“, sagt die alte Dame. An der Straße lag eine Vielzahl kleiner Läden, der Hermannsplatz war „urgemütlich“, und der Mariannenplatz sauber, weil Wächter ein Auge auf ihn hatten. Aber vor allem erzählt Lotte Kirchberger von den Kinos im Kiez. Genauer, von der Zeit, als sie mit ihrem Mann zum „Filmeck“ oder zu „Stella“ ging. Die Zeit mit ihm ist diejenige, an die sie sich am besten erinnern kann oder will, und deshalb kennt sie auch nach siebzig Jahren noch die Kinotage. „Mittwoch und Samstag ging ich mit meinem Mann ins Kino“, sagt sie und dass das „Stella“ zehn Pfennig teurer war. Dafür bot es aber Wasserspiele vor dem Film. „Ich hab das Blinzeln beim Zuschauen nicht gut vertragen, aber mein Mann hat das sehr gemocht“, sagt Lotte Kirchberger.
Nach dem Krieg hat sich alles geändert. „Damals fing das Durcheinander an“, sagt die alte Dame. „Früher hatten die Bäcker nur Brot verkauft, plötzlich hatten sie belegte Brötchen“. Und im Gardinenladen gab es Stoff zu kaufen. In den 60er-Jahren sind die ersten Gastarbeiter in die Oranienstraße gekommen. „Ich habe nichts gegen Ausländer“, das sagt Lotte Kirchberger mehrmals, „aber für meine Begriffe ist es jetzt fremdartig“. Und wiederholt: „Natürlich nur für meine Begriffe. Ich hatte ja eine ganz andere Erziehung als die jungen Leute von heute.“ Und dann erzählt sie von der türkischen Frau, die ihr die schwere Tasche abnehmen wollte: „‘Quälen Sie sich nicht‘, hat sie gesagt, und ich drehe mich um und sehe, sie hat ein Kopftuch.“ Lotte Kirchberger lacht. „Ich habe sie wie einen Geist angeguckt.“ „Ich kenne Sie“, hat dann die türkische Frau gesagt, „ich Sie aber nicht“, hat die alte Dame geantwortet. „Doch“, hat die die junge Frau darauf beharrt. „Wir wohnen bei Ihnen gegenüber, und mein Mann sagt immer, so eine alte Frau kann doch nicht alleine leben.“
Es gab eine Zeit, in der das Alleinleben Lotte Kirchberger schwer wurde. So schwer, dass sie „kurz davor war, eine Dummheit zu machen“, wie sie es nennt. Aber in der Welt von Lotte Kirchberger gibt es Dinge, die man tun, und solche, die man nicht tun darf. Heute sei das anders, glaubt sie. Aber sie will und kann damit leben. „Ich hab mich der Jugend angeschlossen – damit ich nicht stehenbleibe.“
Also ist Lotte Kirchberger weitergegangen, von der prächtig geordneten in die schmuddelig unübersichtliche Oranienstraße und von einem Leben zu zweit ins Alleinesein. Ihre Tochter ist stehengeblieben. Eine alte Tochter, 73 Jahre alt, die vor einiger Zeit ihren Mann nach 43 Jahren Ehe verloren hat. Jetzt leidet sie an Wahnvorstellungen und lebt in einem Pflegeheim. „So ein trauriges Ende“, sagt ihre Mutter. Dann beginnt sie zu rechnen. Die Ehe ihrer Tochter hat viermal so lange gedauert wie die ihre, deshalb glaubt Lotte Kirchberger, dass sie viermal soviel Zeit brauchen wird, um über den Verlust hinwegzukommen. „Es ist, als sei sie hundert und ich siebzig Jahre alt“, überlegt Lotte Kirchberger im Schein der sich langsam erleuchtenden Fachwerkburg auf der Anrichte, umgeben von den Fotos der lächelnden Enkel und Urenkel. Das ist eine sehr mathematische Form mit dem Unglück umzugehen. Vielleicht ist es auch nur eine praktische Nüchternheit, die man auf einem hundertjährigen Weg erwirbt, der von immer weniger Menschen begleitet wird. Zur Zeit wartet die Tochter auf ein Einzelzimmer im Pflegeheim. „Was sind das für Zustände, in denen man darauf warten muß, dass jemand stirbt“, sagt ihre Mutter.
Lotte Kirchbergers Anschluss an die Jugend brauchte Zeit. Als in den 70er-Jahren die Studenten in das Haus in der Oranienstraße gezogen sind, war die Alteingessene eher skeptisch. „Es war sehr unruhig damals“, sagt sie. Die Jugend war nicht nur unruhig, sie war auch langhaarig. Als die alte Dame den Maler Rainer im Hausflur traf, reichten seine Haare bis zur Hüfte, und sie fragte überrascht und wenig erfreut: „Sie wollen hier einziehen?“ Später – zu Zeiten der Demonstrationen am ersten Mai – ist Lotte Kirchberger noch einmal mit ihm aneinander geraten. Als er die Haustür auf die vom Tränengas geschwängerte Straße öffnen wollte, habe sie ihn „zusammengeschissen“, sagt sie und lacht. Es ist nicht das übliche Wort für die alte Dame, aber wenn sie es nutzt, nutzt sie es gern.
Vor allem Künstler sind damals ins Haus gekommen, haben Teile davon gekauft und umgebaut. „Ich habe immer an der Tür gelauscht, ob jemand im Gang war und bin dann erst hinuntergegangen“, sagt Lotte Kirchberger. Damals begannen auch die Hausfeste, die jungen Leute haben auch die alte Dame geholt, aber gefreut hat es sie nicht. Das „bloß Flapsige der Jugend“ war nicht ihre Sache. „Es war mir unangenehm, weil ich nicht wußte, wie ich mich ausgleichen konnte“, erklärt sie. „Ausgleichen“ klingt ungewohnt für heutige Ohren, vielleicht meint es „vertraut machen“, und niemand weiß, wie man es in fünfzig Jahren nennen wird. Lotte Kirchberger hat wenig Schüchternes an sich, aber vielleicht muss man sich ein solches Treffen wie die Reise in ein fremdes Land vorstellen. Man begegnet ungewohnten Sitten und Denkweisen und die Tatsache, dass man scheinbar die gleiche Sprache spricht, macht es nur noch verwirrender. Wenn man 100 Jahre alt geworden ist, bleibt niemand mehr, der „Fräulein“ sagt, wie Lotte Kirchberger, und sich an den Geburtstag des Kaisers erinnert.
Inzwischen sind die jungen Leute älter geworden, haben geheiratet und Kinder bekommen. Lotte Kirchberger sagt, man habe sich „zusammengerauft“, aber das Wort gefällt ihr dann doch nicht, weil es so hart klingt. „Es ist ein Ausgleich entstanden“, meint sie. „Alles ist vernünftig und anständig“, und das ist ein großes Lob aus ihrem Mund. Im Hausflur hängen Fotos der letzten Hausfeste. „Lotte ist 95“ steht mit Kreide auf dem Hof und im Hintergrund sieht man Feuerschlucker und Akrobaten. „Wenn ich eine Fünf oder Null in meinem Geburtstag habe, wird das hier gefeiert“, sagt Lotte Kirchberger und dann schleicht sich noch ein „wir“ ein: „Das machen wir schon jahrelang.“
Kürzlich hat sie von ihrem Mann geträumt. Zum ersten Mal, seitdem sie die Waldemarstraße verlassen hat. „Wie lange soll ich noch auf dich warten“, hat er gefragt. „Verrückt“, sagt Lotte Kirchberger und lacht ihr heiseres Lachen, „es geht mir nicht mehr aus dem Kopf.“
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