: Im Zaubermantel der Verneinung
Fünfzig Jahre „Minima Moralia“, fünfzig Jahre „Fänger im Roggen“: Ein Plädoyer dafür, Adornos Kulturkritikbuch als Zwilling von Salingers Roman zu begreifen. Zugleich ein Rückblick auf die Siebzigerjahre, als das Ganze noch das Unwahre war
von STEPHAN WACKWITZ
Mein Exemplar des heiligen Texts trägt auf dem Schmutztitel den Erwerbsvermerk „München Oktober 1971“, mit schwarzer Tinte, geschrieben in einer eckigen und mir heute völlig fremden Jungerwachsenenhandschriftschrift. Der Herbst 1971 ist eine düstere, neblige, existentialistische Angelegenheit in meiner Erinnerung und mein Münchener Studentenleben nach Auskunft meiner Tagebücher aus dieser Zeit eine irgendwie unstrukturierte Aufhäufung langweilig-sinnloser und vor allem freier Zeit, die ich in meinem Studentenzimmer in einem Hochhaus in der Nähe des damals noch baustellenzerfurchten Olympiageländes verbrachte, in der Bibliothek des germanistischen Seminars in der Schellingstraße, wo ich ältere Studentinnen beobachtete, darüber nachgrübelnd, wie ich mit ihnen in irgendeinen Kontakt kommen könnte, und in bestimmten Schwabinger Teestuben, in denen ich stundenlang Kafkas Erzählungen las, Jasmintee trank und filterlose „Players Navy Cut“-Zigaretten rauchte.
Am Wochenende ging ich nachmittags durch tropfende und nebelwabernde Parkanlagen in das Bogenhausener Haus einer Studentenverbindung, in dessen verlassenem, düster getäfeltem Zentralsaal ich auf einem sehr guten Steinway Semi Grand Klavier üben durfte, was irgendwie durch Bekannte meines Vaters vermittelt worden war. Aus einem Kellerraum drang das kung-fu-artige Stöhnen, Klatschen und Schreien der Übungsmensuren in meine immer holprigeren Interpretationen des „Wohltemperierten Klaviers“.
Eine durchschnittlich verlorene Erstsemesterexistenz. Und der Tag in meinem Studentenzimmer hoch über dem baustellenzerfurchten Olympiagelände, an dem ich von morgens bis in den dunklen Spätnachmittag hinein die „Minima Moralia“ las, ist mir so gegenwärtig wie der Samstag, an dem ich, vier Jahre zuvor, im „hinteren Lesezimmer“ des Evangelisch-Theologischen Seminars in Schöntal an der Jagst, einem Internat der Evangelischen Landeskirche Baden-Württembergs, Salingers „Fänger im Roggen“ in einem Rutsch ganz ausgelesen habe. Das Schönste an diesen Dauerleseerlebnissen (Proust hat das irgendwo geschildert) ist ja die Erinnerung an die Momente, als man die Nase kurz aus dem Buch hob, um sich einen Tee zu machen oder in den Speisesaal hinunterzugehen, weil es zum Abendessen geklingelt hatte. Bei meinem „Minima Moralia“-Erlebnis war es der Moment, als ich fünf Uhr nachmittags den Fahrstuhl nach unten nahm, mit dem Bus die Leopoldstraße herunterfuhr, noch im nebligen Schwabing umherging und nichts, aber auch gar nichts meiner grundsätzlichen Kritik entging.
Es war ein ganz neues Machtgefühl. Es mochte auf den ersten Blick scheinen, dass da ein zu dünner, tolpatschiger, pickliger und bebrillter Erstsemesterstudent durch die Türken-, Schelling- und Amalienstraße ging. In Wirklichkeit handelte es sich um Supermann, der jetzt gleich den Adorno-Zaubermantel überwerfen und sich in die Lüfte erheben würde, ein Schrecken der scheinbar vollends aufgeklärten, in Wahrheit aber im Zeichen triumphalen Unheils strahlenden Erdlinge. Ich wusste jetzt etwas, nachdem ich es bisher immer nur geahnt hatte. Ich wusste, dass noch das Vergnügen an einem Jasmintee in meiner Schwabinger Lieblingsteestube den abgrundbösen Lauf der Welt bestätigte, ihn vielleicht in seiner ja nur scheinbaren Harmlosigkeit noch insgeheim abgrundböser bestätigte als das eher offenkundig abgrundböse kung-fu-artige Stöhnen, Klatschen und Schreien der Übungsmensuren, wie es am Wochenende aus dem Kellerraum des Studentenverbindungshauses in meine immer holprigeren Interpretationen des „Wohltemperierten Klaviers“ drang. Weil dieses Stöhnen und Klatschen ja jeder als abgrundböse erkennen konnte.
Mir kam es eher darauf an, das Abgrundböse noch in den anbetungswürdigen und unbegreiflicherweise praktisch täglich wechselnden Garderoben einer älteren Studentin aufzudecken, die ich jeden Tag im Germanistischen Institut bewunderte, ohne dass ich die Geistesgegenwart aufgebracht hätte, mich ihr irgendwie anders als durch exzessives Anglotzen zu empfehlen. Für derlei Naheliegendes fehlte es einem Zögling des Evangelisch-Theologischen Seminars der Baden-Württembergischen Landeskirche ganz einfach an den gesellschaftlichen Techniken. Als ich sie irgendwann hinter einem Jungen, dem man ansah, dass er ganz bestimmt nicht in jenem Seminar gewesen war, in all ihrer uschiobermeierhaften Anbetungswürdigkeit auf dem Rücksitz eines schweren Motorrads die Leopoldstraße herunterdonnern sah (sie hatte schon wieder etwas Neues an: eine hellbraune Wildlederjacke mit Fransen), da blieb mir eben nur noch Adorno: „Jene aber, die, unterm Schein der unreflektierten Spontaneität und stolz auf die scheinbare Aufrichtigkeit, sich ganz und gar dem überläßt, was sie für die Stimme des Herzens hält, und wegläuft, sobald sie jene Stimme nicht mehr zu vernehmen meint, ist in solcher souveränen Unabhängigkeit gerade das Werkzeug der Gesellschaft.“ Statt dass sie mit mir in meiner Lieblingsteestube Adorno gelesen hätte!
Ach Gott, ja. Man könnte dieses ohnmächtige Machtgefühl seitenlang parodieren. Meister Rutschky hat ein für allemal geschildert, was für schöne Zeiten es waren, als man noch im Freibad lag und unwiderleglich wusste, dass die Welt vollkommen in Unordnung war – es ist 1984 im Merkur erschienen, „Erinnerungen an die Gesellschaftskritik“, man muss das nicht alles wiederholen. Und es widerstrebt mir auch, mich über den linkischen, frustrierten, zu dünnen und pathologisch schüchternen 19-jährigen Internatszögling lustig zu machen, der ich einmal war – zumal im psychischen Leben ja nichts wirklich verloren geht, ganz anders wird und ich mich folglich noch heute mindestens zweimal täglich so fühle wie damals. Und wenn ich genauer darüber nachdenke, finde ich es auch gar nicht so liebenswert und harmlos, dass nicht nur meine narzisstische Störung durch unsere massenhafte und unreflektierte Lektüre von Texten, die eigentlich nur aus der – nur zu verständlichen – Verzweiflung einer konkreten Exilsituation verständlich sind und auf die Weltlage zu Beginn der Siebzigerjahre einfach nicht passten, systematisch verstärkt und bestätigt wurde.
Es wäre einfach viel vernünftiger gewesen, denke ich heute oft, uns damals ein bisschen zu zeigen und beizubringen, wie man sich in der Welt zurechtfindet, statt unsere Ungeschicklichkeit geschichtsphilosophisch zu nobilitieren und uns damit in ihr einzusperren. Ich jedenfalls hätte den ganzen Adorno – und Kafka obendrein – liebend gern dafür eingetauscht, wenn ich es geschafft hätte, beispielsweise jene uschiobermeierhafte Kommilitonin mit den täglich wechselnden Garderoben mal zu einem Kaffee einzuladen. Und wenn ich viele junge Leute des Jahres 2001 kennen lerne – ihre unbefangene Zutraulichkeit, ihr entspannter Umgang mit gesellschaftlichen Anforderungen, ihre Freundinnen und oft sogar schon Ehefrauen –, dann bin ich einfach neidisch. Nicht nur, weil ich älter werde und alle Älteren auf alle Jungen in gewisser Weise neidisch sind. Sondern ich bewundere und neide ihnen ein bisschen eine Jugend ohne unsere Vorbilder.
Ohne die linksradikalen Häuptlinge, die uns damals weismachten, wir müssten die Revolution machen und den Vorsitzenden Mao liebhaben. Ohne die gesellschaftlichen Zwänge, so grauenhaft angezogen herumzulaufen, wie wir damals herumlaufen zu müssen glaubten. Ohne Petra Kelly. Und eben auch ohne diesen ganzen Schmarren und intellektuellen Kitsch à la „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Das gibt es eben doch, ein richtiges Leben in der abgrundbösen Welt. Und wir hätten auch ganz gern eines gehabt. Aber wenn man mit der vollen Autorität des Professors, Naziopfers und Volldurchblickers empfänglichen und weltfremden Neunzehnjährigen diesen Quatsch einimpft, dann haben die dann wirklich kein richtiges Leben im falschen, also nämlich überhaupt kein richtiges Leben.
Der Zufall des gleichen Erscheinungsjahrs will es, dass neulich ein Aufsatz von Louis Menand über Salingers „Fänger im Roggen“ im New Yorker erschienen ist. Louis Menand ist ein Mann, von dem im Zweifelsfall fünf Druckseiten über ein Buch ganze literaturwissenschaftliche Regalladungen ersetzen. Sein Stück über den „Fänger im Roggen“, scheint mir, ersetzt nicht nur ganze Regalladungen über Salingers Roman, sondern zugleich eine oder zwei andere über die „Minima Moralia“, die wie der „Fänger“ vor fünfzig Jahren erschienen sind. Nachdem ich Menands Aufsatz gelesen habe, ist mir klar geworden, dass es nicht nur an der eigenartigen und einmaligen Rezeptionssituation der frühen Siebzigerjahre liegt, dass der Adorno der „Minima Moralia“ wirklich so etwas wie der J. D. Salinger der Philosophie gewesen ist und die Erzähl- und Kommentarstimme seines berühmtesten und bestverkauften Buchs der Holden Caulfield der Kritischen Theorie.
„Holdens Geheimnis als Erzähler liegt darin, dass er nichts so stehen lässt, wie es ist. Er sagt dem Leser immer, was er denken muss. Er legt uns immerfort fest. Darin liegt zugleich seine Komik. Die Redaktion des New Yorker (die es 1951 ablehnte, ein Kapitel aus dem ‚Fänger‘ vorabzudrucken, S.W.) hatte schon Recht: Holden ist kein normaler Teenager. Er ist ein Wunderkind.“ So wie wir „Minima Moralia“-Leser 1971 keine normalen Erstsemester waren, sondern Wunderkinder im Erkennen des Abgrundbösen noch im Harmlosesten. Wobei das Schönste war, dass dieses Erkennen uns wundersamerweise zugleich der Notwendigkeit enthob, an uns und unserer Weltlage auch nur das Geringste zu ändern, uns etwa ein bisschen geschliffenere Umgangsformen zuzulegen, was uns beispielsweise erlaubt hätte, die Uschi Obermeier der germanistischen Seminarbibliothek zum Kaffee einzuladen. Nichts da. Hiergeblieben und der Welt die Larve heruntergerissen. Bloß nichts so stehen lassen, wie es ist. Zu allem muss fortwährend gesagt werden, was man davon zu halten hat. Nichts nämlich hat man davon zu halten. Man darf nichts von der Welt halten, es wäre geradezu ein politisches Verbrechen. Weil nämlich „die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt“. Es scheint im Leben vieler, vielleicht fast aller jungen Leute eine – vielleicht einfach hormonell bedingte – Phase zu geben, in der sie alles, aber auch wirklich alles in den schwärzesten Farben sehen. „Die emotionale Belastung der Adoleszenz“, schreibt Menand, „liegt darin, dass man nicht weiß, warum man unglücklich, böse oder neben der Kappe ist. Der Reiz und der Wert des ‚Fängers im Roggen‘, sein Suchtpotenzial ist es, dass einem dieser Roman einen Grund für diese Zustände gibt. It gives a content to chemistry.“
Wenn diese Deutung Louis Menands schon ziemlich gut ist, dann ist es schlechterdings genial, wie er Salingers Roman stringent auf das Kriegstrauma seines Autors zurückführt. Holden, weist er nach, ist von einem bei der alliierten Eroberung von Nazieuropa tief erschütterten Autor geschrieben worden, der 1945 einen schweren psychischen Zusammenbruch im Armeekrankenhaus ausgerechnet von Nürnberg auskurieren musste. Und auch Holden selbst ist „ein Junge, dessen Bruder gestorben ist. Holden ist nicht unglücklich, weil er erkennt, dass seine Mitmenschen oberflächlich und konventionell (phony) sind; er erkennt diese Oberflächlichkeit und Konventionalität, weil er unglücklich ist. Seine Sicht auf andere Menschen ist aus demselben Grund so durchdringend und seine Enttäuschung aus demselben Grund so unversöhnlich, aus dem Hamlets Gefühle so durchdringend und unversöhnlich sind . . . Sein Gefühl universaler Sinn- und Wertlosigkeit ist einfach die normale Befindlichkeit und Gefühlslage eines Menschen, der den Tod eines geliebten Menschen erlebt hat.“
Adorno schrieb und sammelte die Stücke der „Minima Moralia“ zu derselben Zeit, als Salinger den D-Day an Utah Beach, die Schlachten im Wald von Hürthgen und an der Bulge erlebte und in den Vernichtungslagern des „Generalgouvernements“ die Ermordung der europäischen Juden ihrem grausigen Höhepunkt entgegenging. Sein Gefühl universaler Sinn- und Wertlosigkeit ist die Befindlichkeit und Gefühlslage eines Menschen, der den Tod so vieler ihm nahe stehender und geliebter Menschen erlebt hat. Womit wir bei dem entscheidenden Unterschied zwischen den „Minima Moralia“ und dem „Fänger im Roggen“ wären. Die Leser des Romans von J. D. Salinger nehmen die Todeserfahrung des Autors, die Trauer des Überlebenden, die Depression des Zurückgebliebenen unterschwellig auf, gefiltert durch den fundamentalen Unterschied von Poesie und Wissen, der das Reich der Literatur von dem der Soziologie trennt. „Ich lernte das Buch kennen durch meine Eltern“, schreibt Menand, „die zwei Schlaganfälle pro Nase bekommen hätten, wenn sie sich vorgestellt hätten, dass ich nach der Lektüre aus der Schule weggelaufen wäre, wie ein Schlot geraucht, in Bars mein Alter falsch angegeben, mich mit einer Nutte eingelassen oder in jedem dritten Satz das Wort ‚verdammt‘ benutzt hätte.“ Die „Minima Moralia“ aber wurden wir angehalten, für ein Werk nicht der Poesie, sondern des Wissens zu halten. Auf der Umschlagklappe meines Exemplars des heiligen Texts stehen zwei „Kritikerstimmen“. Die erste ist von Hans Kudszus und lautet: „Adornos Werk ‚Minima Moralia‘ erdrückt alles, was unser Jahrhundert bisher an kulturdiagnostischen und kulturkritischen Dokumenten vorgelegt hat.“ Die zweite ist von Habermas, und der schrieb: „Sein Hauptwerk ist eine Sammlung von Aphorismen. Sie darf getrost, als sei sie eine Summe, studiert werden.“
In Wirklichkeit, so lautet mein Vorschlag zur Güte der zeitgenössischen „Minima Moralia“-Rezeption, sollten wir Adornos Hauptwerk, die Summe seiner negativen Theologie, nicht studieren, sondern genießen. Sie ist – in Heinz Schlaffers fundamentaler Unterscheidung – Poesie, nicht Wissen. Die in ihr aufbewahrte Todeserfahrung darf nicht zu wirklichen Handlungen anzuleiten beanspruchen wie die Wissenschaft, sondern wie die Poesie nur zu inneren Bewegungen führen. Die „Minima Moralia“ sind kein wissenschaftliches Dokument der Kulturkritik, sondern der künstlerische Ausdruck einer individuellen Befindlichkeit. Erst wenn wir dieses Buch als Zwilling des Salinger’schen Romans erkennen können – oder, um ein Beispiel aus dem deutschen Sprachraum zu nennen, als Cousin des Werks von Thomas Bernhard –, werden wir wieder etwas aus ihm lernen können.
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