Abschied ohne große Schmerzen

Mit einer Mehrheit von rund 80 Prozent trennen sich die grünen Delegierten vom Pazifismus. Ein Nein zum Krieg stand am Ende gar nicht mehr zur Wahl

aus Rostock PATRIK SCHWARZ

Der Parteitag wird an diesem Samstagabend noch bis eine halbe Stunde vor Mitternacht tagen, doch die Entscheidung fällt bereits um 21.26 Uhr. Der Tagungsleiter hat um ein „Meinungsbild“ darüber gebeten, welche der neun konkurrierenden Anträge für oder gegen eine Fortsetzung von Krieg und Koalition die Favoriten sind. Ein Nein zum Krieg kommt nicht mal mehr in die engere Auswahl. In schriftlicher Abstimmung nominieren die 750 Delegierten für das Schlussvotum zwei Anträge, die beide den Bundeswehreinsatz in Afghanistan klar unterstützen: den Leitantrag des Bundesvorstands und einen Vorschlag von Ralf Fücks und Daniel Cohn-Bendit. Dafür, dass die Grünen sich monatelang bemüht hatten, als Partei der institutionalisierten Selbstzweifel zu gelten, geht ihr Abschied vom Pazifismus in der Rostocker Stadthalle jetzt überraschend schmerzlos über die Bühne.

Bei den unterlegenen Linken herrscht Durcheinander. Annelie Buntenbach, eine der Dissidentinnen in der Bundestagsfraktion, soll die Niederlage schnell und live bei n-tv erklären. Auf dem Weg zur Kamera wird sie mit guten Ratschlägen von Astrid Rothe bestürmt, der jungen Widersacherin der Grünen-Spitze im Parteirat. Doch Buntenbach steht der Sinn vorerst nicht nach Weiterkämpfen: „Hier ’ne Werbeveranstaltung draus zu machen finde ich schwierig.“

Weder die Verknüpfung von Kriegs- und Koalitionsfrage verübelten die Delegierten ihrer Führung noch das unumwundene Ja zum Bundeswehreinsatz. Am Ende des Abends wird der Leitantrag des Bundesvorstands mit einer Mehrheit angenommen, die an die 80 Prozent reichen dürfte – das Tagungspäsidium verzichtet darauf, die vielen Hände einzeln abzuzählen. „Wir akzeptieren“, heißt es in dem Beschluss, dass die Mehrheit der grünen Bundestagsabgeordneten dem Bundeswehreinsatz zugestimmt hat (siehe Kasten). Der „Integrationskurs“, den Parteichefin Claudia Roth vergangene Woche vorgegeben hatte, traf sich mit der Sehnsucht der Basis nach Einigkeit angesichts von Krieg und Koalitionskrise.

Bereits der Leitantrag zollte den Kriegsgegnern Respekt und kritisierte Kanzler Schröder, weil seine Vertrauensfrage „weder unvermeidlich noch in der Wirkung Vertrauen fördernd“ gewesen sei. Am Samstagabend mühte sich der Bundesvorstand überdies, die Bedenken vieler Grüner gegen das westliche Vorgehen in Afghanistan mit Zugeständnissen aufzufangen.

Auf Betreiben Hans-Christian Ströbeles bekräftigt der Parteitag die Begrenzung des Bundeswehrauftrags. Eine Ausweitung der Kriegszone auf den Nahen Osten wird abgelehnt, „angesichts der dramatisch veränderten Lage in Afghanistan ist es möglich, den Krieg zu beenden“. Die Grünen kritisieren, der Krieg schaffe neuen Hass, „eine wirksame Eindämmung terroristischer Gewalt wird dadurch schwieriger“. Die Grüne Jugend setzte eine Kritik an der Informationspolitik der USA und Großbritanniens durch. Roth verweist für die Änderungen auf obersten Segen: „Auch Joschka hat sie sich zu Gemüte geführt.“

Ob taktisch motiviert oder aus ehrlicher Empfindung für die Nöte einer kriegsskeptischen Basis – Joschka Fischer und seine Unterstützer obsiegten mit einer Strategie der Großzügigkeit, wie sie selten auf grünen Parteitagen zu beobachten war. Zu später Stunde wurde sogar ein Vorschlag zurückgezogen, der im Sinne Daniel Cohn-Bendits dafür plädiert hatte, das reine „Akzeptieren“ des Bundeswehreinsatzes durch das stärkere „Unterstützen“ zu ersetzen. Den entspannten Umgang mit den Kriegsgegnern konnte sich die Parteitagsregie freilich nur leisten, weil ihr ein Regisseur im Vorfeld geholfen hatte: Kanzler Gerhard Schröder hat mit seiner Vertrauensfrage den grünen Meinungsumschwung wesentlich beeinflusst.

Die Linke wusste in Rostock wohl selbst nicht recht, wie ihr geschah. Ströbele, der für seine Rede Beifall quer durch den Saal erhalten hatte, sprach nach der Abstimmung nur knapp von fehlenden Alternativen, da die Delegierten den Bundestagsbeschluss nicht mehr hätten umkehren können. Trotzdem gab er sich versöhnlich: „Mit dem Antrag des Bundesvorstands kann man leben.“

Bleibt die Frage, wozu die Delegierten eigentlich ihre Zustimmung erteilten. So offen der Leitantrag formuliert war, so kategorisch waren die Reden von Joschka Fischer, Parteichef Fritz Kuhn und der Fraktionsvorsitzenden Kerstin Müller. Insbesondere der Außenminister verlangte eine Mehrheit, auf die für die grünen Minister Verlass ist – „bis zum Ende der Legislaturperiode“. US-Präsident George W. Bush hatte am vergangenen Mittwoch vor der 101. US-Luftlandedivision erklärt: „Afghanistan ist erst der Anfang.“ Joschka Fischer formulierte es anders: „Ich kann hier niemandem versichern, dass wir im Verlauf der Legislaturperiode nicht noch mal im Bundestag entscheiden müssen.“