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Die Erkrankung Einsamkeit

Aufzeichnungen aus Pflegehäusern (5): Im rationellen Zeitmanagement kann eben nicht wahrgenommen werden, dass Kommunikation zwar alles andere als effektiv und linear ist, sondern eher ornamental, aber genau darin – unverzichtbar

■ Alter bedeutet in unserer modernen Gesellschaft nicht ein Jetzt-erst, das Fülle und Ertrag meint, sondern ein Nicht-mehr, ein Manko, ein Makel, ein Schicksal, eine Endstation. Unsere Serie beschäftigt sich damit, wie daraus die massenhafte Produktion von unnötigem Leiden wird

von PETER FUCHSund JÖRG MUSSMANN

Zeit, das ist das Zentralproblem der Einrichtungen, über die wir hier berichten. Sie muss offenbar so bewirtschaftet werden, dass alles möglichst so schnell geht, dass Weiteres auch möglichst so schnell gehen kann. Diese Bewirtschaftung setzt an Körpern an, an deren Funktionen, an den Notwendigkeiten der Versorgung, die durch die Körper selbst entstehen. Es geht also um körperorientierte Zeit – Essenszeit, Ausscheidungszeit, Säuberungszeit, Behandlungszeit. Sie ist die Primärzeit, die sich der Vorstellung verdankt, der Körper und seine Versorgung seien das Vordringliche und erst danach und in den Zwischenzeiten dieser Primärzeit könne man dann leben.

Es gibt jedoch etwas, das für das Bewusstsein ungeheuer viel nötiger ist als ein sauberer und intakter Körper, etwas, ohne das jedes Leben reine Not wäre, ein Notdurft-Leben nur, wie man es sozusagen gültig doppeldeutig formulieren könnte. Wir reden von Kommunikation. Es ist wahr, dass Kommunikation ohne irgendein Bewusstsein in ihrer Umwelt kaum vorkäme, aber ebenso wahr ist es, dass es kein Bewusstsein lange aushält, ohne mit Kommunikation konfrontiert zu werden. Es kann sich nicht lange mit sich selbst unterhalten, es muss unterhalten werden, und das ist die genuine Leistung von Kommunikation. Dünnt sie aus, wird sie mehr und mehr entzogen, dann kann das verbleibende Bewusstsein nur noch auf seine eigenen Bestände zurückgreifen. Zur Not muss es Halluzinationen produzieren, und manchmal hilft ein Nymphensittich, Kommunikation zu simulieren. Aber das sind nur flüchtige Behelfe gegen die furchtbare Erkrankung Einsamkeit, an der das Bewusstsein nach und nach erlischt.

Kommunikation ist nicht nur zentral, weil sie Bewusstsein in Gang hält, sondern auch, weil in Kommunikationsprozessen festgelegt wird, wer jemand ist, wie er und als was er und ob er überhaupt in Betracht kommt. Die Theorie mag das, was dabei entsteht, die soziale Adresse nennen, und sie mag sogar behaupten, dass das Begehren, adressabel zu sein, das eigentliche Urbegehren sei. Aber wie immer die Fachausdrücke lauten mögen, so viel ist klar, dass Kommunikation die nicht zu tilgende Bedingung für einen gelingenden Weltkontakt, für gelingendes Leben ist.

Dabei muss man den Ausdruck „gelingendes Leben“ nicht sehr hoch hängen. Es genügt, sich zu notieren, dass Kommunikation gelingt, wenn angeschlossen wird (und sei es in Zorn und Verzweiflung), wenn also geredet und nicht nur geschwiegen wird. Wer glaubt, das Verstehen, gar das richtige Verstehen sei zentral, wird vielleicht die Befehlssprache der Militärs vor Augen haben, wird aber kaum einmal der Kommunikation in Bäckereien, zwischen Freunden, am Strand, im Eisenbahnabteil zugehört haben. Fast könnte man sagen, dass Kommunikation alles andere als effektiv und linear sei, sondern eher ornamental, aber genau darin: unverzichtbar. Entscheidend ist, dass das Bewusstsein registriert, dass es beteiligt war, ist und sein wird. Es verarmt, wenn die Anschlüsse technisiert erfolgen, Erledigungs- und Abwicklungsanschlüsse sind, in denen es auf die Selbstreferenz der dadurch betroffenen Menschen nicht sehr ankommt. Man muss bedenken, dass der soziale Ort, in dem das Ausloten von Selbstreferenz (die Komplettberücksichtigung der Person) systematisch gepflegt wird, nämlich Systeme der Intimität, die Familie etwa, weitgehend ausfallen, wenn ein Heimleben aufgenommen wird.

Umso erstaunlicher (ja im genauen Sinne: grauenvoller) ist der Umstand, dass in den Einrichtungen, über die wir reden, die Körperbewirtschaftungszeit primär gesetzt ist, wohingegen die Zeit der Bewirtschaftung des Bewusstseins, des Selbstbezuges der Person durch Kommunikation minimiert ist. Ein einfacher Grund dafür ist, dass die Körperbearbeitung berechenbarer (und damit: prognostizierbarer) erscheint als das, was das Bewusstsein der Kommunikation, die Kommunikation dem Bewusstsein offerieren kann. Im Gegensatz zum gebrechlichen Körper bleibt das Bewusstsein überraschungsfähig und kann heute dieses, morgen jenes Bedürfnis artikulieren: „Schwester, heute Abend möchte ich mal fernsehen . . .“ Dieses unerwartete Ereignis bringt dann kaum zu bewältigende Schwierigkeiten mit sich, wenn die unerschütterliche Ansicht herrscht, die Dame im Rollstuhl müsse jetzt, um 18 Uhr, ins Bett und nicht später, weil das schon seit Wochen so exerziert wurde – Alternativen weit und breit nicht in Sicht. Außerdem darf der Nachtschwester um Gottes Willen keine zusätzliche Arbeit (eben das Zubettbringen) zugemutet werden, sonst könnten schwer kontrollierbare Racheketten in Gang gebracht werden, zum Beispiel das Hinterlassen von Arbeit für den Frühdienst. Die Lösung: „Nein. Sie gehen immer um diese Zeit ins Bett, und das ist auch besser für Sie.“ Und dann wird umgeschaltet auf die berechenbare Zeit des Körpers.

Dabei finden sich nicht selten Strategien, durch die Kommunikationsmöglichkeiten fundamental gelöscht werden. Wer den Pfleger nicht sieht, kann sich auch nichts wünschen, es sei denn, er besitzt eine kräftige Stimme oder eine Tasse plus resonanzstarken Untergrund. Kommt es dann doch zu Begegnungen, wird die Kunst des Aufschubs gepflegt: „Nein, Sie können jetzt nicht zur Toilette. Sie waren gerade. Außerdem fallen Sie dann wieder runter, und das tut sehr weh!“ Oder in perfider Rhetorik: „Frau Schmidtmeier, Sie waren heute aber schön ruhig. Das haben Sie gut gemacht!“

Die Entscheidung, wie viel Zeit und welche Formen der Hilfe dem Pflegebedürftigen in seiner stationären Unterbringung zustehen, ist dann auch keine Entscheidung anhand der Berücksichtigung von Bewusstseins- und damit Kommunikationsbedürfnissen. Sie wird gefällt von Gutachtern des medizinischen Dienstes, umfunktionierten Ärzten etwa oder Pflegefachkräften von außerhalb, und sie wird ordentlich gefällt, nämlich auf der Basis standardisierter und defektorientierter Test- und Überprüfungsverfahren. Mitunter genügt die Akteneinsicht, um schlicht vor dem Hintergrund bisher erbrachten pflegerischen Aufwandes festzulegen, wie viel Zeit dem alten Menschen nicht geschenkt, sondern verkauft wird. Dabei ist Zeit für Kommunikation (also Lebensermöglichung) unterrepräsentiert und im klassischen Sinne: luxuriös, was nichts weiter bedeutet als: nur zusätzlich erwerbbar.

Die Richtlinien der Pflegekassen zur Feststellung und Einstufung von Pflegebedürftigkeit geben in ebendieser Logik Orientierungsrichtlinien zur Pflegezeitbemessung vor. Sie legen fest, wie viel bezahlte Zeit zur biologischen Existenzerhaltung des Pflegebedürftigen durch pflegerischen Dienst angeboten wird. Wasser lassen: fünf Minuten; Aufnehmen einer Hauptmahlzeit maximal zwanzig Minuten. Die Berechnungen sind akribisch, sie sind deutsch, sie blenden den Eigensinn, die Eigenzeit von Kommunikation und Bewusstsein aus. Man hat es mit fatalen Rubriken zu tun, mit furchtbaren Kategorien, die dazu führen, dass eine Zeit des Nicht-Lebens trotz biologischer Existenz entsteht, ein Starren aus den Fenstern, Blickleere, innere Ödnis. Die Serviette bietet endlose Faltmöglichkeiten bis zum Mittagessen, Selbstgespräche werden geführt, und all dies plausibilisiert, dass die Einschätzungen des Pflegepersonals richtig sind: „Tja, Frau Schulze ist nun auch ganz durcheinander geworden. Die wird auch immer älter . . . jetzt redet sie schon mit sich selbst.“ – „Herr Clausen will auch nicht mehr . . . der hat aufgegeben. Der tüttelt da mit seinen Servietten rum, ohne aufzuhören! Das wird nichts mehr.“

Die Pflege- und Körperzeit ist handgriffbezogene Routinezeit, die Nicht-Pflege-Zeit ist die Zeit, in der nichts weiter geschieht, Wartezeit also, in der das Bewusstsein auf sich selbst geworfen und zu einer Art Tasche wird, die sich selbst immer aufs Neue durchsucht.

Man darf nicht vergessen, dass selbst dann, wenn konventionelle Kommunikation kaum noch möglich erscheint, immer noch das möglich ist, was in der Behindertenpädagogik tonischer Dialog genannt wird, ein bedeutsamer Kontakt der Körper, Behutsamkeit im Geltenlassen, was der andere als Adresse noch immer ist, in welchem Meer des Vergessens oder der Verwirrung er auch um- und umgetrieben werden mag. Aber selbst diese Möglichkeit verschwindet im Phantasma der Vordringlichkeit der Körperzeit.

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