: Hautfetzen in der Einkaufszone
Die schwerste Welle palästinensischer Anschläge in Israel mit 25 Toten in Jerusalem und Haifa stellt die Führungsrolle Jassir Arafats in Frage
aus Jerusalem SUSANNE KNAUL und HEIDE OESTREICH
Blut und Hautreste der Todesopfer dreier Bombenanschläge von Jerusalem waren noch nicht weggewaschen, als es zu einer weiteren Explosion im nordisraelischen Haifa kam. Die neue Gewaltwelle forderte insgesamt 25 Menschenleben in weniger als 24 Stunden. Israels Premierminister Ariel Scharon, der sich in den USA aufhielt, brach seine Reise vorzeitig ab.
Der bislang schwerste Bombenanschlag in der jüdisch-arabischen Stadt Haifa ereignete sich gestern kurz vor 12.00 Uhr mittags in einem Linienbus. Die islamisch-fundamentalistische Bewegung Hamas übernahm die Verantwortung. Augenzeugenberichten zufolge war der Bus durch die Sprengung gegen eine Hauswand geschleudert worden. Auch für die Attentat am Vorabend übernahm die Hamas die Verantwortung, obwohl sich dazu vorher bereits die Gruppe Islamischer Dschihad bekannt hatte. Die beiden Täter kamen aus dem Ostjerusalemer Vorort Abu Dis.
In Jerusalem protestierten am Sonntag rund 500 überwiegend religiöse Demonstranten in der traditionellen schwarzen Kleidung gegen die israelische Zurückhaltung angesichts des anhaltenden Terrors. Auf Plakaten forderten sie den schärferen Einsatz der Armee. „Erst einer, dann noch einer, dann wird die ganze Nation verschwinden“, warnte eins der Spruchbänder. „Bibi, Bibi“ forderten andere die Rückkehr des konservativen Expremierministers Benjamin Netanjahu. Religiöse Freiwillige der „Chevrat Kadischa“ („Heilige Gesellschaft“) arbeiteten noch an der Beseitigung der Spuren der Attentate, die sich in der Nacht inmitten einer vor allem von Jugendlichen besuchten Fußgängerzone ereignet hatten. Sie wischten die Blutspuren an der Absperrung zu einer Baustelle ab und sammelten Hautreste ein. Die drei Sprengsätze waren mit Nägeln und Metallsplittern versetzt gewesen.
Von einem Balkon aus sang ein offenbar verwirrter Mann durch eine Flüstertüte: „Give war a chance“, („Gebt dem Krieg eine Chance“) und: „Kahana hatte Recht.“ Der Mann wurde von Sicherheitsbeamten abgefangen.
Vier Läden waren bei den Explosionen völlig zerstört worden, die Fensterscheiben bis in den vierten Stock zerbrochen. Eine Gruppe von Glasern sammelte sorgfältig die Scherbenreste aus den Fensterrahmen. In einem Souvenirshop lagen die kleinen blauweißen Israelfahnen zerstreut, daneben ein handgemaltes Schild mit der aufmunternden Aufschrift: „Nicht aufgeben.“ Dazwischen Hautfetzen.
Vor einem anderen Laden hatten Passanten rund 70 Kerzen aufgestellt. Ein Schild forderte hier „eine Antwort“ auf die Attentate. Genau an dieser Stelle legte der US-Nahostbeauftragte Anthony Zinni am Morgen einen Kranz nieder.
„Zinni go home“, riefen Demonstranten unter Pfiffen, als der Amerikaner an den Ort des Attentates kam, und immer wieder: „Tod den Arabern“. Der amerikanische Exgeneral nannte die Attentate die „niedrigste Stufe der Unmenschlichkeit“. Der Terror müsse umgehend aufhören. Begleitet wurde Zinni vom israelischen Staatspräsidenten Mosche Katzaw, der sein „Vertrauen in die Sicherheitsdienste“ betonte. Gleichzeitig appellierte er an die internationale Staatengemeinschaft, mehr Druck auf die palästinensische Führung auszuüben. Katzaw empfahl, sämtliche Kontakte abzubrechen, was dazu führen würde, „dass die palästinensische Führung schärfere Maßnahmen gegen den Terror unternehmen wird“.
Palästinenserführer Jassir Arafat berief am Nachmittag die Minister zu sich. Die Sitzung endete mit einer Erklärung, in der die Führung einen „nationalen Ausnahmeszustand“ erklärt und die Sicherheitsdienste zur Verhaftung aller Hintermänner der Attentate aufruft. In Jerusalem beriet das israelische Kabinett unter der Leitung von Außenminister Schimon Peres und bestätigte die Vorschläge von Verteidigungsminister Benjamin Ben-Eliesar und dem Stabschef Schaul Mofaz, wobei Details nicht an die Öffentlichkeit drangen. Die politischen Beratungen sollen fortgesetzt werden, wenn der Premierminister wieder in Israel ist. Scharon brach seine zunächst bis Mittwoch geplante US-Reise gestern Abend vorzeitig ab.
Schon jetzt zeichnet sich eine konfliktreiche Debatte im Kabinett ab. Während die konservativen Minister aus dem Rechtsaußenlager massive Militärschläge und sogar den erneuten Landesverweis von Palästinenserpräsident Jassir Arafat fordern, verfolgt die Industrie- und Handelsministerin Dalia Jitzik (Arbeitspartei) die sofortige einseitige Trennung zwischen Israel und den Palästinensern. Die Arbeitspartei solle gegenüber dem Regierungschef klar Stellung beziehen und eine Lösung fordern, meinte Jitzik im Gespräch mit dem staatlichen Hörfunk. Scharon habe keine Antwort, deshalb werde es so kommen wie immer: „Heute sind wir zu Tode erschreckt, und morgen ist schon wieder alles Routine.“ Die einzige Lösung sei die Errichtung eines Trennungszauns.
Seit gut einem Monat besteht offiziell die überparteiliche Bewegung „Trennung jetzt“, der vor allem Mitglieder der Arbeitspartei aber auch einige Likud-Abgeordnete angehören. Die Idee ist innerhalb der Arbeitspartei umstritten. So glaubt der Abgeordnete Jossi Beilin, der die Verhandlungen in Oslo führte, dass eine „nicht von beiden Seiten vereinbarte Grenze immer wieder zu Konflikten führen wird“. Auch Außenminister Schimon Peres hält unverändert an einer Fortsetzung des Osloer Friedensprozesses fest und drängt auf eine Wiederaufnahme der Verhandlungen auch ohne eine siebentägige Feuerpause, auf die Scharon unverändert beharrt.
Zweifellos drängten die Amerikaner im Verlauf ihrer Gespräche mit dem israelischen Regierungschef auf weitere Zurückhaltung. Ohne schnelle Maßnahmen von Seiten der palästinensischen Führung wird ein israelischer Vergeltungsschlag indes kaum ausbleiben. Israel und die USA fordern die Verhaftung von mindestens einhundert militanten Extremisten, die Zerschlagung der Terrorgruppen sowie die Einstellung der antiisraelischen Propaganda. Großer Handlungsspielraum bleibt dem Palästinenserführer kaum noch. Sollte Arafat weiter die Hände in den Schoß legen, wird Israel derzeit kaum internationale Hindernisse zu bedenken haben, wenn es die Vergeltung plant.
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